Fehlgeburten am Fließband
Schwangere sind im US-Arbeitsleben mitunter lebensgefährlich diskriminiert
Der 40 Jahre alte Pregnancy Discrimination Act ist das einzige USBundesgesetz, das derzeit werdende Mütter im Job schützen soll. Er ist ein stumpfes Schwert, wie über Jahre erhobene Daten zeigen.
Das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, ein Anspruch, den die USA auf so manchem Gebiet bis heute zu Recht erheben, ist andererseits immer auch ein Land unfassbarer Peinlichkeiten gewesen. In der Privatwirtschaft etwa, die die US-Wirtschaft weithin frei von gewerkschaftlichen Gegengewichten beherrscht, läuft ein Dauerkonflikt, bei dem es oft um Sein oder Nichtsein, ums nackte Leben geht: Als »Fehlgeburt am Arbeitsplatz: Der physische Preis der Diskriminierung von Schwangeren« fasste die »New York Times« eine landesweite Untersuchung zusammen, deren Ergebnisse im vergangenen Herbst veröffentlicht wurden.
Die Zeitung selbst hatte die Recherche über Jahre gegen große Widerstände vorgenommen. Sie sah »Tausende Seiten aus Gerichts- und anderen Behördendokumenten« in Verbindung mit Arbeiterinnen ein, die angezeigt hatten, Fehlgeburten erlitten zu haben, nachdem Unternehmer ihre Hilfsappelle abgelehnt hatten – damit sie, etwa, in Lagern nicht länger schwere Matratzen und große Pakete bugsieren oder schwerbeladene Karren schieben müssten. Die Betroffenen waren nach Angaben der »Times« in ganz verschiedenen Bereichen tätig, im Krankenhaus und Postamt, vor allem aber in Privatbetrieben wie Lagerhäusern großer Logistikfirmen, in Hotels, Obst- und Gemüsegeschäften, in Feuerwachen und Restaurants. In einem Fall, einem Depot von Verizon, größter US-Mobilfunkbetreiber, gelang es der Zeitung in Memphis (Tennessee), direkt mit Betroffenen zu sprechen. Das Fazit der Recherche: »Diskriminierung von Schwangeren am Arbeitsplatz ist weitverbreitet im Amerika der Konzerne und Unternehmen. Manche verweigern werdenden Müttern Beförderungen oder Lohnsteigerungen; andere feuern sie, ehe sie Schwangerschaftsurlaub antreten können. Doch für Frauen in körperlich schweren Jobs kann Schwangerschaftsdiskriminierung ein noch höheres Risiko haben …«
Die Zeitung berichtet etwa von Erica Hayes, die 23 ist und in der zweiten Hälfte ihrer Schwangerschaft, als sie an einem Januarabend nach acht Stunden Hebens großer Pakete von einem Fließband auf ein anderes an ihrer Arbeitsstelle in einem Depot für Handys und Zubehör zur Toilette rennt. Ihre Jeans blutig, sie selbst voller Angst, dass nun eingetreten ist, was sie mit wiederholten – stets abgewiesenen – Bitten an ihre Vorgesetzte, leichtere Pakete zu bearbeiten, verhindern wollte. »Es war das Schlimmste, das ich erlebte«, sagt sie dem Blatt zufolge. Drei andere Frauen im selben Betrieb und selben Jahr hätten gleichfalls Fehlgeburten erlitten.
Ganz ähnlich die ebenfalls geschilderte Geschichte von Tasha Murrell, Mutter zweier Jungen. Während ihrer dritten Schwangerschaft hat sie am Arbeitsplatz oft schwer heben müssen und schließlich Unterleibsschmerzen. Sie informiert ihre Vorgesetzte und bittet, sie etwas früher zum Arzt gehen zu lassen. Die lehnt ab und »rät« Tasha zur Schwangerschaftsunterbrechung. Am nächsten Morgen erwacht die Frau daheim auf blutiger Matratze.
Das einzige US-Bundesgesetz, das derzeit werdende Mütter im Job schützen soll, ist ein stumpfes Schwert. Der Pregnancy Discrimination Act ist 40 Jahre alt. Seine Schlüsselklausel verpflichtet ein Unternehmen dazu, die Wünsche Schwangerer nur dann extra zu berücksichtigen, wenn es dies auch anderen Kolleginnen gewährt, die in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sind. Auf Deutsch: Firmen, die niemandem eine Arbeitserleichterung einräumen, sind auch Schwangeren gegenüber dazu nicht verpflichtet. Seit diesem Gesetz von 1978 gab es manchen Versuch im Kongress zu einer zeitgemäßen und zivilisierteren Regelung. Sie kamen allesamt zu nichts. Dies ist einer der Gründe für eine Nachricht vor wenigen Tagen: In den USA sterben mehr Frauen während Schwangerschaft und Geburt als in jedem anderen Industrieland. Dies ist die Haupterkenntnis einer Studie der Stiftung Commonwealth Fund aus New York. Neben Sterbeziffern fast vier Mal über dem Bestwert (Schweden), so die Stiftung, habe sich gezeigt, dass mehr als jede dritte US-Bürgerin aus finanziellen Gründen auch im Krankheitsfall auf Arztbesuche verzichtet.