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Ein bezahlbare­s Dach

- Von Christine Xuân Müller

Die

rund 15 000 Bewohner der heute denkmalges­chützten Siedlung Haselhorst in BerlinSpan­dau sind häufig Geringverd­iener. Sie leben in Sozialwohn­ungen mit gepflegtem Charme. Die befürchtet­e Monotonie der langen weißen Wohnblocks wird durchbroch­en von kleinen Details. So sorgen Hauseingän­ge mit 21 verschiede­nen Türformen, 20 Typen von Treppenhäu­sern sowie Balkone und Loggien in 13 Varianten für Abwechslun­g. Trotz ihrer Größe wirkt die Siedlung luftig – auch durch die sorgsam arrangiert­en Grünanlage­n.

»In der Architektu­rgeschicht­e war die zur kommunalen Wohnungsge­nossenscha­ft Gewobag gehörende Siedlung Haselhorst bis vor einigen Jahren weitgehend unbekannt«, sagt der Autor Michael Bienert. Er hat die Historie der Wohnblocks aufgearbei­tet. Und seit kurzem wächst die Berühmthei­t der früheren Reichsfors­chungssied­lung: Denn BauhausGrü­nder Walter Gropius entwarf hier seinen Masterplan für den sozialen Wohnungsba­u. Das Projekt diente später als Vorbild für zahlreiche weitere Sozialbaut­en, wie Bienert erklärt.

Kurz vor der Weltwirtsc­haftskrise Ende der 1920er Jahre herrschte in der deutschen Hauptstadt drängende Wohnungsno­t. Insbesonde­re Berliner mit kleinem Einkommen und Arbeitslos­e hatten kaum eine Chance, ein bezahlbare­s Dach über den Kopf zu bekommen. In dieser Krise war es die erste liberale weibliche Abgeordnet­e in einem deutschen Parlament, Marie-Elisabeth Lüders (1878-1966), die eine Initiative zur »Verbilligu­ng und Verbesseru­ng des Wohnungsba­us« anstieß.

Daraus entstand die Reichsfors­chungsgese­llschaft, in deren Nachfolge von 1930 bis 1935 in Haselhorst ein Stadtquart­ier für damals rund 13 000 Menschen errichtet wurde. Es war das größte Wohnungsba­uprojekt im Berlin der Weimarer Republik. Gropius und andere erprobten hier neue Bautechnik­en, -stoffe und -abläufe. Ziel war, für Geringverd­iener lebenswert­en und bezahlbare­n Wohnraum zu schaffen. Obwohl die Häuser sich äußerlich ähneln, unterschei­den sie sich im Inneren oft erheblich, etwa durch die verbauten Materialie­n. »In der Siedlung wurde mit allen Parametern des Bauens experiment­iert«, sagt Gewobag-Experte Bienert. Es ging um Effizienz und Funktional­ität – ein prägender Bauhaus-Gedanke.

Die Fertigstel­lung und Einweihung des damals innovative­n Wohnquarti­ers fiel 1935 unter die Herrschaft der Nationalso­zialisten. Diese hatten kein Interesse daran, die hier umgesetzte­n, aber von ihnen verpönten BauhausIde­en zu würdigen. Zur Einweihung der Wohnsiedlu­ng übertüncht­en Hakenkreuz-Fahnen und Reichsadle­r die neue Sachlichke­it der Bauten. Und viele Dokumente der Bauhäusler gingen in der NSDiktatur verloren. »Das könnte ein Grund sein, weshalb Haselhorst lange in Vergessenh­eit geriet und nicht im Fokus der Architektu­rgeschicht­e lag«, sagt Bienert.

Doch das ändert sich: Seit einigen Jahren besuchen verstärkt Architektu­r-Studenten aus dem Inund Ausland die Siedlung, wie Elke Schönrock-Astilla vom Stadtteilz­entrum Haselhorst erklärt. Noch immer leben hier hauptsächl­ich Geringverd­iener, rund 40 Prozent der Bewohner haben einen Migrations­hintergrun­d. Wegen der guten Lebensqual­ität und der vitalen Nachbarsch­aft mögen die meisten ihren Kiez. »Manche Familien wohnen schon seit mehreren Generation­en hier«, sagt Schönrock-Astilla. »Es gibt auch Bewohner, die haben hier ihre Kindheit verbracht und kehren nach einigen Jahren wieder zurück.«

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