Ein bezahlbares Dach
Die
rund 15 000 Bewohner der heute denkmalgeschützten Siedlung Haselhorst in BerlinSpandau sind häufig Geringverdiener. Sie leben in Sozialwohnungen mit gepflegtem Charme. Die befürchtete Monotonie der langen weißen Wohnblocks wird durchbrochen von kleinen Details. So sorgen Hauseingänge mit 21 verschiedenen Türformen, 20 Typen von Treppenhäusern sowie Balkone und Loggien in 13 Varianten für Abwechslung. Trotz ihrer Größe wirkt die Siedlung luftig – auch durch die sorgsam arrangierten Grünanlagen.
»In der Architekturgeschichte war die zur kommunalen Wohnungsgenossenschaft Gewobag gehörende Siedlung Haselhorst bis vor einigen Jahren weitgehend unbekannt«, sagt der Autor Michael Bienert. Er hat die Historie der Wohnblocks aufgearbeitet. Und seit kurzem wächst die Berühmtheit der früheren Reichsforschungssiedlung: Denn BauhausGründer Walter Gropius entwarf hier seinen Masterplan für den sozialen Wohnungsbau. Das Projekt diente später als Vorbild für zahlreiche weitere Sozialbauten, wie Bienert erklärt.
Kurz vor der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre herrschte in der deutschen Hauptstadt drängende Wohnungsnot. Insbesondere Berliner mit kleinem Einkommen und Arbeitslose hatten kaum eine Chance, ein bezahlbares Dach über den Kopf zu bekommen. In dieser Krise war es die erste liberale weibliche Abgeordnete in einem deutschen Parlament, Marie-Elisabeth Lüders (1878-1966), die eine Initiative zur »Verbilligung und Verbesserung des Wohnungsbaus« anstieß.
Daraus entstand die Reichsforschungsgesellschaft, in deren Nachfolge von 1930 bis 1935 in Haselhorst ein Stadtquartier für damals rund 13 000 Menschen errichtet wurde. Es war das größte Wohnungsbauprojekt im Berlin der Weimarer Republik. Gropius und andere erprobten hier neue Bautechniken, -stoffe und -abläufe. Ziel war, für Geringverdiener lebenswerten und bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Obwohl die Häuser sich äußerlich ähneln, unterscheiden sie sich im Inneren oft erheblich, etwa durch die verbauten Materialien. »In der Siedlung wurde mit allen Parametern des Bauens experimentiert«, sagt Gewobag-Experte Bienert. Es ging um Effizienz und Funktionalität – ein prägender Bauhaus-Gedanke.
Die Fertigstellung und Einweihung des damals innovativen Wohnquartiers fiel 1935 unter die Herrschaft der Nationalsozialisten. Diese hatten kein Interesse daran, die hier umgesetzten, aber von ihnen verpönten BauhausIdeen zu würdigen. Zur Einweihung der Wohnsiedlung übertünchten Hakenkreuz-Fahnen und Reichsadler die neue Sachlichkeit der Bauten. Und viele Dokumente der Bauhäusler gingen in der NSDiktatur verloren. »Das könnte ein Grund sein, weshalb Haselhorst lange in Vergessenheit geriet und nicht im Fokus der Architekturgeschichte lag«, sagt Bienert.
Doch das ändert sich: Seit einigen Jahren besuchen verstärkt Architektur-Studenten aus dem Inund Ausland die Siedlung, wie Elke Schönrock-Astilla vom Stadtteilzentrum Haselhorst erklärt. Noch immer leben hier hauptsächlich Geringverdiener, rund 40 Prozent der Bewohner haben einen Migrationshintergrund. Wegen der guten Lebensqualität und der vitalen Nachbarschaft mögen die meisten ihren Kiez. »Manche Familien wohnen schon seit mehreren Generationen hier«, sagt Schönrock-Astilla. »Es gibt auch Bewohner, die haben hier ihre Kindheit verbracht und kehren nach einigen Jahren wieder zurück.«