Boomendes Kakuma
Flüchtlinge sorgen in Kenia mit ihrem Unternehmergeist für Belebung.
Im Flüchtlingslager Kakuma in Kenia sind rund 2000 Flüchtlinge Unternehmerinnen beziehungsweise Unternehmer oder betreiben zumindest ein kleines Geschäft. Sie kamen meist mit so gut wie nichts.
Es ist noch früh am Vormittag, aber schon heiß in Kakuma, einem Flüchtlingslager im Norden Kenias. In der Nähe des offenen Holzkohlefeuers, vor dem Annett Poni sitzt, ist die Hitze stechend. Die 28-jährige Südsudanesin bleibt trotzdem ohne jeden Schatten nahe am Feuer, auf einem leeren Kanister, in dem einmal Speiseöl war. Vor ihr steht ein großer schwarzer Topf mit heißem Fett, in dem sie Krapfen ausbackt, die hier Mandazi heißen. Dazu bietet sie Tee mit viel Milch und Zucker an, das übliche, einfache Frühstück in der Region. Annett Poni verkauft es an Kenianerinnen und Kenianer, die in der Nähe des Flüchtlingscamps leben und gerne zum Essen in ihr einfaches Restaurant kommen – nicht mehr als eine Wellblechhütte mit grob gezimmerten Tischen und Bänken.
Die typischen Rezepte der Kenianer hat sie schnell gelernt, nachdem sie vor zweieinhalb Jahren vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Kakuma floh, ein Camp für derzeit 186 000 Menschen. Während des Tages bietet Poni Githeri an, einen Brei aus Mais und roten Bohnen. Außerdem Bohnen mit Reis. Schon jetzt am Morgen läuft ihr der Schweiß über das Gesicht. Am Tag verdiene sie 500 kenianische Shilling, schätzt Annett Poni, etwa 4,30 Euro. Davon kauft sie Kleidung für ihre sechs Kinder, Schulhefte oder Medikamente, wenn jemand krank wird.
Das kleine Restaurant aufzubauen war für Poni ein Kraftakt, aber »ich wusste, dass meinen Kindern hier niemand hilft, wenn ich es nicht tue.« Also kämpft sie sich durch den Alltag, mit Hilfe einer anderen Flüchtlingsfrau aus dem Südsudan, die Poni bezahlt, das Restaurant wirft genug ab für beide. »Manches fällt mir ja schwerer als anderen«, sagt sie zur Erklärung. Ihr rechtes Bein ist dünn und kraftlos, Folge der Kinderlähmung, an der sie als kleines Mädchen erkrankte. Die junge Frau ist überschlank, wirkt angespannt und angestrengt, wie sie in der Hitze am Feuer sitzt, den Schweiß im Gesicht und neben sich auf dem Boden die Krücke aus Holz, auf die sie sich beim Gehen stützt. Man könnte sie leicht für zehn Jahre älter halten. Sobald sie lächelt, was sie selten tut, sieht sie gleich um Jahre jünger aus, in ihrem leuchtend blauen Kleid mit der goldenen, gestickten Verzierung auf der Brust und ihrer aufwändigen Flechtfrisur, in die künstliche rosa Zöpfe kunstvoll hineingewoben sind.
Zur Flucht entschloss sie sich, nachdem ihr Mann von Mitgliedern einer anderen Ethnie getötet worden war. »Bis dahin hatte er mich in allem unterstützt«, sagt sie. Hatte die Feldarbeit für sie mit übernommen und war ihr auch sonst zur Hand gegangen, wenn sie wegen ihres Handicaps alleine nicht weiterkam. Ohne ihn traute sie sich nicht zu, ihre sechs Kinder durch die Wirren eines brutalen Bürgerkriegs zu bringen. »Außerdem wollte ich, das meine Kinder zur Schule gehen können.« In Südsudan schien ihr das nur mit viel Glück möglich. Aber auch vor der Flucht hatte sie Angst. Wie sollte sie das meistern, mit ihrem Handicap und ihren sechs Kinder, das jüngste war erst ein paar Monate alt? Von ihrem Dorf bis zur Grenze waren sie zwei Tage lang unterwegs. Zwischenzeitlich hätten Rebellen in die Menge der Fliehenden geschossen, erzählt Poni. Die letzten Kilometer bis zum Grenzposten Nadapal wurden sie von einem LKW mitgenommen. Dort erwartet des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR die Ankommenden, bringt sie mit Bussen nach Kakuma.
In dem Camp blieb die junge Mutter nicht lange untätig, suchte nach Starthilfe für ein kleines Restaurant. Sie stieß auf das Hilfswerk Handicap International, das in Kakuma rund 6000 Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen unterstützt, darunter etwa 2000 Kinder. Poni bekam einen Kredit von 10 000 kenianischen Shilling, umgerechnet knapp 90 Euro. Davon ließ sie die Wellblechhütte bauen, Sitzgelegenheiten und Küchenausstattung.
Annett Poni ist nicht die einzige, die sich in Kakuma selbstständig gemacht hat. Etwa 2000 Flüchtlinge sind Unternehmerinnen beziehungsweise Unternehmer, oder betreiben in dem Flüchtlingslager zumindest ein kleines Geschäft. Das ist das Ergebnis einer Studie, die das Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die »International Finance Corporation« IFC im Mai 2018 veröffentlichten. Demnach sind in dem Lager zwölf Prozent der Flüchtlinge GeschäftsinhaberInnen oder kleine Unternehmer – was beachtlich sei, schreiben die Autoren, wenn man bedenke, dass die meisten von ihnen so gut wie nichts besaßen, als sie in Kenia Zuflucht fanden.
Auch die 30-jährige Bisharo Muya Sokondo kam mit leeren Händen nach Kakuma. Jetzt sitzt sie auf dem blanken Lehmboden in ihrem kleinen Laden, in dem sie Trockenfisch, Kochbananen, Reis und andere Lebensmittel verkauft. Sokondo ist behindert, seit ihr rechtes Bein 2002 nach einem Schlangenbiss über dem Knie amputiert werden musste. Zwei Jahre später ergriff sie die Flucht, mit groben hölzernen Krücken, zusam- men mit ihrer Mutter und ihren zwei Nichten. Ihr Vater war während der Kämpfe getötet worden. Ihr Bruder, der von Geburt an gehbehindert ist, blieb zunächst in Somalia zurück, floh erst einige Jahre später. Aber nicht nach Kakuma, sondern in das andere kenianische Lager, nach Dadaab.
Während Sokondo erzählt, klingelt immer wieder ihr Telefon. Dann unterbricht sie kurz ihren Bericht, um mit kenianischen Händlern zu diskutieren, die ihr Ware anbieten. Eine Ladung Bananen zum Beispiel. Sokondo handelt ihre Deals mit energischer Stimme aus und scheint als Geschäftsfrau erfolgreich zu sein, jedenfalls läuft ihr Laden schon seit zehn Jahren. Dabei war der Anfang sehr bescheiden: Sokondo zweigte etwas von den Lebensmittelrationen ab, die sie vom Welternährungsprogramm in Kakuma erhielt, und verkaufte es. »Ich wollte Geld verdienen, um meine Mutter und meine Nichten unterstützen zu können«, sagt die Somalierin. Dann ergab sich die Möglichkeit, Trockenfisch für einen äthiopischen Händler zu verkaufen, sie bekam einen Anteil vom Gewinn. Seit vier Jahren handelt sie auf eigene Rechnung mit dem Fisch, ihre Gewinnspanne ist seitdem größer.
Wie die Südsudanesin Annett Poni schätzt auch Sokondo ihren Gewinn auf 400 bis 500 kenianische Shilling am Tag. Davon legt sie jeden Tag 100 Shilling zurück. Den Rest gibt sie für Lebensmittel für ihre Familie aus – in den Rationen ist beispielsweise kein frisches Gemüse enthalten, keine Milch, keine Eier oder Fleisch. Auch Sokondo bekam von Handicap International Startkapital, damit sie ihren Laden einrichten konnte. Später außerdem Regale für ihre Waren, die bis dahin auf dem Boden gelegen hatten.
Mit ihrem Unternehmergeist helfen die Flüchtlinge nicht nur sich selbst, sondern auch ihren Gastgebern: Wie UNHCR und IFC betonen, stellen sie häufig einheimische Arbeitskräfte an. Zudem beflügeln ihre wirtschaftlichen Aktivitäten die Ökonomie in der Region: Die Flüchtlinge kaufen Kleinvieh zum Schlachten. Sie brauchen Feuerholz, Holzkohle und andere Produkte, die von den Einheimischen angeboten werden. Für die Region Kakuma im Landkreis Turkana ist das besonders wichtig: Die Gegend ist trocken und wurde im wesentlichen von halbnomadischen Hirten besiedelt, bis 1992 die ersten Flüchtlinge aus Südsudan kamen. Turkana war damals von mehreren schweren Dürren gezeichnet, komplette Viehherden waren verendet, viele Menschen hatten mit ihren Tieren ihre Lebensgrundlage verloren. Mit der Eröffnung des Lagers begann ein lokaler Wirtschaftsboom. Der Bedarf an kenianischen Arbeitskräften, der für die Versorgung von Zehntausenden Neuankömmlingen nötig war, ging und geht weit über die Region hinaus.
Der Kenianer Billy Kapua, der zum Volk der Turkana gehört und im Norden Kenias aufwuchs, hat von 2001 bis Anfang 2018 für verschiedene Hilfsorganisationen in Kakuma gearbeitet. Ihn beeindruckte vor allem, dass die Flüchtlinge schon früh begannen, Arbeitskräfte aus dem Volk der Turkana zu beschäftigen: als Mitarbeiter in ihren Läden, als Träger oder Transporteure. Kapua schätzt, dass bis zu 5000 Kenianer bei den Flüchtlings-Geschäftsleuten und –Unternehmer*innen im Lager Kakuma eine mehr oder feste Arbeit haben, oder als Tagelöhner Geld verdienen.
Die beiden kenianischen Lager Dadaab und Kakuma sind in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für die jeweilige Region vergleichbar. Viele Kenianer erledigen ihre Einkäufe in den Camps, kaufen dort Kleidung, Mobiltelefone und andere Waren. Laut UNHCR und ICF beträgt die Wirtschaftsleistung im Lager Kakuma und der angrenzenden Region 56 Millionen US-Dollar im Jahr. Für Nordkenia ist das ausgesprochen viel, denn von dem Flüchtlingslager abgesehen gibt es dort wenig wirtschaftliche Perspektiven. Die Gegend ist dünn besiedelt, die Bevölkerung arm, die Regierung investiert kaum etwas.
»Wir sollten unsere Annahme überdenken, dass Flüchtlinge untätig in den Lagern herumsitzen und nichts tun, außer auf Hilfe zu warten«, ist für den UNHCR-Vertreter in Kenia, Raouf Mazou, das Fazit aus der Studie. »Tatsächlich gründen sie Unternehmen und schaffen Arbeitsplätze für andere.« Davon träumt auch Annett Poni. Sie möchte ihr Restaurant gerne erweitern und zusätzlich einen Laden gründen, damit sie genug Geld verdient, um allen ihren sechs Kindern eine gute Bildung mit auf den Weg geben zu können.