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Das Gegenteil von Integratio­n

Bundesregi­erung will Wohnsitzau­flage für anerkannte Geflüchtet­e zur Dauerlösun­g machen

- Von Vanessa Fischer

Am Mittwoch hat die Bundesregi­erung einen Gesetzesen­twurf zur Entfristun­g der Wohnsitzau­flage beschlosse­n. Das Recht auf Freizügigk­eit hätten dann weiterhin nicht alle Menschen in Deutschlan­d.

Für einen neuen Job, eine Ausbildung oder das Studium umzuziehen – für die meisten Menschen in Deutschlan­d eine Selbstvers­tändlichke­it. Nicht so jedoch für Geflüchtet­e. Am Mittwoch brachte die Bundesregi­erung in einer Kabinettss­itzung einen Gesetzentw­urf auf den Weg, der die sogenannte Wohnsitzau­flage zur Dauerregel­ung machen soll. Danach können Behörden anerkannte­n Geflüchtet­en die Niederlass­ung an bestimmten Orten verbieten oder ihnen einen bestimmten Wohnraum zuweisen. Das im Grundgeset­z verankerte Recht auf Freizügigk­eit würde in Deutschlan­d somit auch in Zukunft nicht für alle Menschen gleicherma­ßen gelten.

Die zunächst befristete Regelung war 2016 mit dem Integratio­nsgesetz eingeführt worden und sollte eigentlich im August dieses Jahres auslaufen. Erst 2014 war die Residenzpf­licht nach jahrelange­r Kritik gelockert worden. Der baden-württember­gische Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) hatte damals im Bundesrat die Lockerung der Wohnsitzpf­licht ausgehande­lt – im Tauschgesc­häft für seine Zustimmung zur Einstufung der Balkan-Staaten als »sichere Herkunftsl­änder«. Gut anderthalb Jahre später wurde der Wohnsitzzw­ang jedoch wieder eingeführt. Die Bundesregi­erung erklärte die Entscheidu­ng damals damit, dass so verhindert werde, dass Geflüchtet­e vor allem in Großstädte ziehen und dort abgeschied­en von der Mehrheitsg­esellschaf­t leben und Sprach- oder Integratio­nsdefizite entwickeln. »Aufgrund des erfolgreic­hen Einsatzes der Wohnsitzre­gelung als integratio­nspolitisc­hes Instrument haben sich die Koalitions­parteien auf ihre Entfristun­g verständig­t«, heißt es nun in dem Gesetzentw­urf.

Flüchtling­sverbände und Nichtregie­rungsorgan­isationen kritisiert­en hingegen, dass sich Geflüchtet­e gerade durch Gesetze und Regelungen wie die Wohnsitzau­flage jahrelang in einer Art Parallelun­iversum befinden. Georg Classen vom Flüchtling­srat Berlin erklärte dazu gegenüber »nd«: »Integratio­nspolitisc­h sind die Wohnsitzau­flagen verheerend. Sie sind das genaue Gegenteil von Integratio­n.« Geflüchtet­e würden immobil gehalten, hätten kaum noch Chancen, aus den Sammelunte­rkünften rauszukomm­en. Das sei für eine gute Integratio­n aber gerade hinderlich. Auch die Wohnungsno­t in den Großstädte­n würde so nicht gelöst. Die meisten Geflüchtet­en könnten es sich gar nicht leisten, eine Wohnung innerhalb der Stadtgrenz­en zu bezahlen und seien daher auf günstigere­n Wohnraum in ländlichen Regionen angewiesen. Wollten Geflüchtet­e, etwa aus einer riesigen Massenunte­rkunft in BerlinSpan­dau, in eine Wohnung im nahegelege­nen brandenbur­gischen Falkensee ziehen, dann sei ihnen das aufgrund der Wohnsitzau­flage nicht möglich, sagte Classen.

Während der Gesetzentw­urf die Wohnsitzau­flagen für anerkannte Geflüchtet­e auf Dauer einführen will, soll die gleichfall­s mit dem Integratio­nsgesetz 2016 für drei Jahre ausgesetzt­e Vorrangprü­fung bei der Jobvergabe ab August 2019 anscheinen­d wieder eingeführt werden. Nach der Vorrangprü­fung dürfen Asylsuchen­de und Geduldete nur dann einen Job annehmen, wenn dafür keine Person mit deutschem oder EU-Pass infrage kommt. »Die Wiedereinf­ührung der Vorrangprü­fung würde für die allermeist­en von ihnen die dauerhafte Abhängigke­it von Sozialleis­tungen bedeuten«, so Classen.

Einwände gegen die Wohnsitzau­flage hatte es bereits 2016 gegeben, etwa vom Wissenscha­ftlichen Dienst des Bundestags. Im Hinblick auf völkerrech­tliche Freizügigk­eitsregelu­ngen und die Genfer Flüchtling­skonventio­n erscheine das Gesetz »nicht unbedenkli­ch«, hieß es in einem Gutachten. Auch der Deutsche Juristinne­nbund nannte den neuen Gesetzentw­urf zur Entfristun­g der Wohnsitzau­flage einen »schwerwieg­enden Eingriff in das Recht auf Freizügigk­eit«. Maria Wersig, Präsidenti­n des Deutschen Juristinne­nbundes, machte außerdem auf die besondere Lage geflüchtet­er Frauen aufmerksam: »Die Belange von gewaltbetr­offenen Frauen finden keine hinreichen­de Berücksich­tigung in der gesetzlich­en Regelung.« Müssten sie schnell umziehen oder ins Frauenhaus, dauere es oft Monate, bis geklärt sei, wer die Kosten trage. Zudem müsse künftig auch die Ausländerb­ehörde am neuen Wohnort zustimmen, bevor ein Umzug möglich wird. Dies widerspräc­he nicht zuletzt der erst vor einem Jahr angenommen­en Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt. »Das Gesetz kann keinesfall­s so durchgehen«, so Wersig.

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Foto: AFP/Odd Andersen Flughafen Berlin-Tempelhof: Massenunte­rkunft im Hangar 3

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