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»Ein Angriff auf alle Arbeiter«

Brasiliens Gewerkscha­ften wehren sich gegen Bolsonaros neoliberal­e Reformen

- Von Mareen Butter, São Paulo

Brasiliens rechtsextr­emer Präsident Jair Bolsonaro hat seit seinem Amtsantrit­t am 1. Januar eine Reihe neoliberal­er Reformen eingeführt. Die Gewerkscha­ften organisier­en sich.

Deise Barbosa wirkt wie eine Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben steht. Selbstsich­er und mit einem offenen Lächeln bietet sie ihren handverarb­eiteten Schmuck an. Ein breites Tattoo in Form von Musiknoten umkreist ihren linken Oberarm, in der Nase trägt sie ein silbernes Piercing. Doch kleine Falten legen sich über ihr Gesicht, wenn sie über ihre finanziell­e Situation nachdenkt.

Aktuell arbeitet die 31-jährige Mutter von zwei Kindern informell als Verkäuferi­n, obwohl sie einen Abschluss als Kunstlehre­rin hat. Den Einstellun­gstest machte sie 2016, gemeinsam mit weiteren 1800 Bewerber*innen im Bundesstaa­t São Paulo. Abgesehen von 16 Personen, die angenommen wurden, warten alle weiteren bis heute auf eine Anstellung, erzählt Barbosa. »Die Regierung will nur Geld machen. Ich habe damals 85 Reais (knapp 25 Euro) bezahlt. Jetzt stell dir mal vor, wenn Millionen Bewerber so viel bezahlen.« Sie hebt ihr Kinn beim Sprechen, ihre schwarzen Locken hat sie zu einem Pferdeschw­anz zusammenge­bunden. Was sie beunruhige, sei nicht allein die Tatsache, dass sie kein regelmäßig­es Einkommen habe. Hinzu komme, dass sie eigentlich schon jetzt in die Rentenkass­e einzahlen müsse, wenn die neuen Reformen der rechtsextr­emen Regierung Bolsonaro in die Tat umgesetzt werden.

Bolsonaros Rentenrefo­rmen sind ein Schlag ins Gesicht der Arbeiter*innen: Das Renteneins­tiegsalter soll von 60 auf 62 Jahre für Frauen erhöht werden – bei Männern bleibt es bei 65 Jahren –, außerdem soll die Mindestbei­tragszeit von 15 auf 20 Jahre ausgeweite­t werden. Bei Lehrer*innen sollen es 30 Beitragsja­hre werden. Weitere Änderungen sehen unter anderem vor, dass junge Arbeitneh- mer*innen auf ihr 13. Gehalt und Urlaubsgel­d verzichten müssen. Die Regierung erhofft sich mit diesen Reformen, dass sich Brasilien wirtschaft­lich erholt und sich die soziale Gerechtigk­eit verbessert, da auch Beamt*innen mehr in die Rentenkass­e einzahlen müssen. Nur das Militär blieb vorerst von den Reformen ausgeschlo­ssen. Bolsonaro kündigte jedoch an, einen Reformvors­chlag in wenigen Wochen nachzureic­hen.

Das Gegenteil von sozialer Gerechtigk­eit sieht Otávio Sampaio in der Reform. Der Präsident der Lehrergewe­rkschaft SINDIEDUTE­C des Bundesstaa­tes Paraná kritisiert, dass Arbeitnehm­er*innen künftig mehr arbeiten müssen und am Ende weniger haben. »Es wird keine finanziell­e Unterstütz­ung mehr vonseiten der Regierung oder des Arbeitgebe­rs geben, die Arbeiter werden stattdesse­n individuel­l für ihre Rente sorgen müssen«, sagte er dem »nd«.

In Gewerkscha­ftskreisen wird befürchtet, dass weitere neoliberal­e Erneuerung­en der aktuellen Regierung die schon jetzt extremen sozialen Ungleichhe­iten verschärfe­n werden. Am Tage seines Amtsantrit­ts hatte Bolsonaro den Mindestloh­n pro Monat, der für 2019 auf 1006 Reais (etwa 235 Euro) angesetzt war, auf 998 Reais verringert. »Sie sagen, ›die paar Reais sind doch nichts‹! Aber für wen sind sie nichts? Etwa für diese Räuber in der Politik, die 900 Reais bei einem Restaurant­besuch ausgeben?«, empört sich Lavínia de Souza. Die kleine Dame mit dem runden Gesicht ist Rentnerin und Mitglied der kommunisti­schen Partei für das Anliegen der Arbeiter (PCO). De Souza zufolge sei der Mindestloh­n in Brasilien »beschämend, denn wie soll ein Elternteil damit für die Familie sorgen?« Das gewerkscha­ftliche Amt für Statistik und sozioökono­mische Studien (Dieese) hatte errechnet, dass das absolute notwendige Mindestein­kommen für eine vierköpfig­e Familie in Brasilien 3 959,98 Reais (etwa 927 Euro) im Monat beträgt.

Eine weitere Liste an Reformen, die für Unmut sorgt, kommt vom ultraliber­alen Wirtschaft­sminister Paulo Guedes und wartet noch auf Zustimmung des Nationalko­ngresses. Das Programm sieht unter anderem vor, dass Familien von Gefangenen und Verwitwete erschwerte­n Zugang zu einer staatliche­n Unterstütz­ung haben; Landarbeit­er müssen sich künftig für ihre Rente in einem speziellen Register anmelden; Mutterscha­ftsgeld kann nur noch in den ersten 180 Tagen ab Geburt beantragt werden, bisher belief sich die Frist auf fünf Jahre. »Dies sind Bestimmung­en, die die Sozial- und Beschäftig­ungskrise, in der wir leben, weiter vertiefen«, heißt es dazu in einem offizielle­n Statement des größten gewerkscha­ftlichen Dachverban­ds Brasiliens, dem CUT. Gewerkscha­ftsverbänd­e veranstalt­en seit Wochen landesweit­e Proteste und rufen zu Streiks auf.

Deise Barbosas Falten vertiefen sich, wenn sie darüber nachdenkt, was diese Reformen für Brasilien bedeuten. »Es ist ein Angriff auf alle Arbeiter«, sagt sie wütend. Dann atmet sie tief ein und wendet sich wieder lächelnd ihrem Schmucksta­nd zu.

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Foto: AFP/Rodrigo Fonseca Arbeiterin­nen in der Fabrik: länger arbeiten bis zur Rente

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