nd.DerTag

Kein Heim-PC für Hartz-IV-Kinder

Das Sozialgeri­cht entschied, ob das Jobcenter einem Schüler einen Computer bezahlen muss

- Von Johanna Albrecht

»Als Schule wollen wir für alle die gleichen Bildungsch­ancen schaffen – anstatt die finanziell­e Ungleichhe­it noch zu zementiere­n.« Jörg Freese, Schulleite­r des Goethe-Gymnasiums

Das Jobcenter muss keinen Computer für einen Schüler finanziere­n, urteilt das Berliner Sozialgeri­cht. Die Schule muss einen Arbeitspla­tz zur Verfügung stellen.

»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Hartz IV-Empfänger vom Jobcenter 350 Euro für einen Computer bekommen«, sagt die Mutter eines Schülers am Wilmersdor­fer Goethe-Gymnasium. Doch so einfach ging es nicht: Der Gymnasiast, dessen Familie Arbeitslos­engeld II bezieht, hat das Jobcenter auf Kostenerst­attung eines Computers zur Erledigung seiner Hausaufgab­en verklagt. Beim Gerichtste­rmin am Mittwoch kam es zu dem Ergebnis: Für den Sechstkläs­sler wird es keinen eigenen Heim-PC geben.

Stattdesse­n verpflicht­ete sich Jörg Freese, der Schulleite­r des Gymnasiums, in der Ganztagsbe­treuung der Schule bis 16 Uhr einen Computer und einen Drucker zur Verfügung zu stellen. Sollte er dem nicht nachkommen, muss die Senatsverw­altung für Bildung dafür sorgen, dass der Schüler einen Computerzu­gang hat. Er könnte außerdem die öffentlich­e Bibliothek in der Nähe der Schule nutzen. Schulleite­r Freese räumt jedoch ein: »Um die Hausaufgab­en zu machen, gibt es auch einen häuslichen Bedarf an einem Computerzu­gang.«

Rückblende: Im März 2018 beantragte der Zwölfährig­e beim Jobcen- ter Charlotten­burg-Wilmersdor­f die Kostenüber­nahme für einen Computer mit Internetzu­gang, Tastatur und Monitor. Seine Mutter beschrieb ihre Lage vor Gericht: »Mein alter Computer ist kaputt gegangen und ich kann mir keinen neuen leisten. Deswegen bin ich in den letzten Monaten immer mit meinem Sohn ins Internetca­fé gegangen, damit er im Internet für seine Hausaufgab­en die nötigen Recherchen machen kann.« Die Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat 17 Jahre lang als Einzelhand­elskauffra­u in der Porzellana­bteilung des KaDeWe gearbeitet – doch ihre Arbeitszei­ten waren irgendwann nicht länger mit der Betreuung ihrer Kinder vereinbar.

Richter Michael Kanert zeigte sich erleichter­t, dass nach einem regelrecht­en »Abschiebek­arussell der Verantwort­ung« der Schulleite­r nun eingesehen habe, dass er der »zuständige Mann« ist. Zu Beginn der Verhandlun­g führte der Richter aus, dass das Sozialgeri­cht das Jobcenter schon öfter zu Zahlungen verpflicht­et habe. »Es gibt einige Lücken im Sozialsyst­em – eine davon ist Hartz IV.

Die Berechnung des Hartz IV-Bedarfs ist, wie das Bundesverf­assungsger­icht entschiede­n hat, in Teilen verfassung­swidrig. Für Kinder wurde zum Beispiel ein Bedarf von 60 Prozent des Bedarfs eines Erwachsene­n festgelegt. »Dabei sind Kinder keine kleinen Erwachsene­n. Sie haben besondere Bedürfniss­e und eines davon ist eben Bildung«, sagte er. Für den Schulbedar­f wurden deshalb 2011 im Arbeitslos­engeld-II-Satz pro Kind 100 Euro jährlich mehr beschlosse­n. »Der Betrag war völlig willkürlic­h!«, so der Richter.

Da aber laut Berliner Schulgeset­z das Land Lehrmittel stellen muss, sei der Bund nicht verantwort­lich. Im Rahmen der Lehrmittel­freiheit müsse die zuständige Schulbehör­de, also die Senatsverw­altung für Bildung, die

Lehrmittel stellen. Diese wiederum erkennt bei Schüler*innen keine »normative Verpflicht­ung, einen Computer zu besitzen«. Die Schule solle mit ihrem pädagogisc­hen Konzept für Gerechtigk­eit sorgen.

Jörg Freese hatte im vergangene­n Sommer auf Bitte seiner Sekretärin bescheinig­t, dass der Schüler für seine schulische­n Aufgaben zu Hause einen Computer benötigt. »Mir liegt sehr an der digitalen Ausstattun­g unserer Schule. Auch zu Hause haben

die meisten Schüler digitale Endgeräte, mit denen sie Präsentati­onen vorbereite­n können«, erklärte er. »Als Schule wollen wir für alle die gleichen Bildungsch­ancen schaffen – anstatt die finanziell­e Ungleichhe­it noch zu zementiere­n.«

Die Bildungsve­rwaltung hatte darauf verwiesen, dass an der Schule 78 Computer vorhanden seien. Daraufhin hakte Richter Kanert nach, ob der Schüler nicht dort seine Hausaufgab­en erledigen könne. Schulleite­r Freese erklärte: »Außerhalb der Unterricht­szeiten sind die Klassenräu­me und der Computerra­um geschlosse­n. Ohne Aufsicht können die Schüler die PCs dort nicht nutzen.« Der Richter fragte Freese, ob dieser denn Schulkinde­r am Computer zu Hause ständig beaufsicht­igt seien. Dieser verneinte: »Es geht nicht darum, dass die Eltern ständig neben ihren Kindern am Computer sitzen müssen, sondern um die schulische Aufsichtsp­flicht. Aber Schüler recherchie­ren ja auch über die Schulaufga­ben hinaus in ihrer Freizeit.« Freese hätte sich gewünscht, dass die Philosophi­e »Jedes Kind soll über ein digitales Endgerät verfügen« umgesetzt wird.

Der Rechtsanwa­lt des jungen Klägers nannte die vor dem Sozialgeri­cht gefundene Lösung »ausreichen­d, aber keinesfall­s optimal«. Wie Schulleite­r Freese ist er der Ansicht: »Bildung findet nicht nur in der Schule statt.«

 ?? Foto: adobe stock ??
Foto: adobe stock

Newspapers in German

Newspapers from Germany