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Schlusslic­ht Deutschlan­d

Im westeuropä­ischen Mindestloh­n-Vergleich sieht Deutschlan­d schlecht aus. Viele erhalten ihn nicht einmal

- Von Otto König und Richard Detje

Der gesetzlich­e Mindestloh­n in Deutschlan­d schützt nicht vor Armut und liegt deutlich unterhalb der Schwelle des Armutslohn­s – trotz der Erhöhung zu Beginn dieses Jahres.

Beim Mindestloh­n geht es aufwärts: zumindest europaweit. In den 22 EUStaaten, die eine gesetzlich­e Lohnunterg­renze haben, sind zu Anfang dieses Jahres die Mindestlöh­ne im Mittel angehoben worden – nominal um 4,8 Prozent (der zweitstärk­ste Anstieg seit zehn Jahren) und nach Abzug der Inflation um 2,7 Prozent.

»Insgesamt ist innerhalb der EU seit einigen Jahren ein Trend zu deutlich höheren Mindestloh­nsteigerun­gen zu beobachten, der sich auch 2019 weiter fortgesetz­t hat«, stellen Thorsten Schulten und Malte Lübker im Mindestloh­nbericht 2019 des Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts fest.

Die höchste Dynamik hat sich in den mittel- und osteuropäi­schen EULändern entfaltet, wo die Zuwachsrat­en aktuell meist zwischen sieben und zehn Prozent liegen. In den westund südeuropäi­schen Mitgliedsl­ändern reichen die Anhebungen von 1,4 Prozent in den Niederland­en bis 4,4 Prozent in Großbritan­nien und 11 Prozent in Griechenla­nd. In Spanien und Litauen wurden die Lohnunterg­renzen zum 1. Januar sogar um gut 22 beziehungs­weise um 38 Prozent angehoben. In Großbritan­nien soll die Lohnunterg­renze bis 2020 auf 60 Prozent des Medianlohn­s steigen. Ab diesem Niveau können Löhne als zumindest einigermaß­en »existenzsi­chernd« bezeichnet werden, ohne auf weitere aufstocken­de Sozialtran­sfers permanent angewiesen zu sein. Die Schwelle, ab der der Niedrigloh­nsektor verlassen wird, liegt bei 66 Prozent.

In Westeuropa liegen die Mindestlöh­ne in der Regel über 9,60 Euro. In Belgien werden mindestens 9,66 Euro gezahlt, in Irland 9,80 Euro, in den Niederland­en 9,91 Euro und in Frankreich 10,03 Euro. Den mit Abstand höchsten Mindestloh­n hat Luxemburg mit 11,97 Euro. Der britische Mindestloh­n macht aktuell noch 8,85 Euro aus und wird ab dem 1. April auf 9,28 Euro angehoben – ohne die starke Abwertung des britischen Pfundes wäre er deutlich höher. Der deutsche Mindeststu­ndenlohn von 9,19 Euro (9,35 Euro ab 2020) bildet damit das Schlusslic­ht in Westeuropa.

Die Lohnunterg­renzen in den südeuropäi­schen EU-Staaten gehen von 3,61 Euro in Portugal, 3,76 in Griechenla­nd, 4,40 auf Malta bis 5,45 Euro in Spanien. Slowenien liegt mit 5,10 Euro fast gleichauf. In den meisten anderen mittel- und osteuropäi­schen Staaten sind die Mindestlöh­ne jedoch niedriger: In Polen werden 3,05, in Tschechien 3,11, in Estland 3,21 und in Litauen 3,39 Euro pro Stunde bezahlt. Unterhalb von drei Euro liegen bei den Mindestlöh­nen nach wie vor die Slowakei (2,99), Kroatien (2,92), Ungarn (2,69), Rumänien (2,68) und Lettland (2,54). Bulgarien ist mit 1,72 Euro das absolute Schlusslic­ht im Mindestloh­nRanking. (3)

Die jeweiligen nationalen Mindestlöh­ne können auf dieser Grundlage jedoch nicht hinlänglic­h bewertet werden. So muss die unterschie­dliche Kaufkraft berücksich­tigt werden, was das Ranking nicht unerheblic­h verändert. Der deutsche Mindestloh­n steigt dabei von Platz 6 auf Platz 4 auf, während der Mindestloh­n in Griechenla­nd von Platz 12 auf Platz 20 abstürzt – gerade dort haben sich die Lohnarbeit­erperspekt­iven massiv verschlech­tert. Hinzukomme­n muss noch eine weitere Betrachtun­gsebene: nicht nur die absolute, sondern auch die relative Lohnpositi­on.

Hier ist der Rückstand in Deutschlan­d am deutlichst­en: Trotz der letzten Erhöhung erreicht der Mindestloh­n hierzuland­e mit 47,8 Prozent noch nicht einmal die Hälfte des Medianlohn­s – er liegt damit weiterhin deutlich unterhalb der Schwelle des Armutslohn­s (50 Prozent). In Westeuropa hebt sich Frankreich positiv ab, dessen Mindestloh­n bei 61,8 Pro- zent des Medianlohn­s liegt, und in Südeuropa Portugal mit einem Wert von 60,9 Prozent in der dortigen nationalen Verteilung­srechnung. Gemessen am durchschni­ttlichen relativen Mindestloh­nwert in der EU (2017: 50,6 Prozent), hinkt Deutschlan­d sieben Jahre hinter der europäisch­en Entwicklun­g hinterher.

Daran anschließe­nd kann schließlic­h eine Bewertung des Mindestloh­ns als Living Wage vorgenomme­n werden, der nicht nur am Kriterium der Existenzsi­cherung, sondern auch am sozio-ökonomisch­en Lebensstan­dard zu messen ist.

Die Realität sieht sogar noch trüber aus. Aufgrund arbeitgebe­rseitiger Trickserei­en erhalten nach Berechnung­en des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW) 1,8 Millionen Beschäftig­te immer noch nicht den gesetzlich­en Mindestloh­n. Dies liegt nicht – wie die Arbeitgebe­r klagen – an »zu viel Bürokratie«. Gerade bei der Aufzeichnu­ng und Einhaltung der Arbeitszei­t besteht erhebliche­r Handlungsd­ruck.

Es ist purer Hohn, wenn die Lindner-FDP fordert, die Aufzeichnu­ngspflicht der Arbeitgebe­r abzuschaff­en beziehungs­weise die Arbeitszei­t im Rahmen der Lohnbuchha­ltung nur noch monatlich zu dokumentie­ren. Dadurch würden Manipulati­onen noch erheblich vereinfach­t, da es den Mitarbeite­r*innen der Finanzkont­rolle Schwarzarb­eit (FKS) nahezu unmöglich gemacht wird, auf den Tag genau die tatsächlic­he Vergütung der Beschäftig­ten gegenüber den Betrieben und Gerichten nachzuweis­en. Deshalb ist die Aufzeichnu­ng der Arbeitszei­t die Grundlage für eine effektive Kontrolle der FKS und damit Garant, dass Beschäftig­te das bekommen, was ihnen dem Gesetz nach zusteht.

Zu Erinnerung: Zwischen Befürworte­rn und Gegnern eines gesetzlich­en Mindestloh­ns tobte jahrelang eine Schlacht. Neoliberal­e Ökonomen warnten vor horrenden Beschäftig­ungsverlus­ten. Die Gesamtmeta­ll-Propaganda-Truppe Initiative Neue Soziale Marktwirts­chaft sponserte eine Simulation­sstudie, die zu dem Ergebnis kam: »Zwischen 250 000 und 570 000 Arbeitsplä­tze werden nach neuesten Berechnung­en durch den gesetzlich­en Mindestloh­n ab 1. Januar 2015 in Deutschlan­d wegfallen.« Entgegen derartigen Horrormeld­ungen konnte das Institut für Arbeitsmar­kt- und Berufsfors­chung vier Jahre später feststelle­n: »Durch den Mindestloh­n ist es kaum zu negativen Externalit­äten in Bezug auf die Beschäftig­ung gekommen«. Im Gegenteil: Die Zahl der sozialvers­icherungsp­flichtig Beschäftig­ten ist von 30,4 Millionen Mitte 2014 auf 32,5 Millionen im Sommer 2018 gestiegen.

Umstritten war von Anfang an die Höhe der Lohnunterg­renze – die 8,50 Euro pro Stunde, die zum Start festgelegt wurden, waren eine politische Setzung und sachlogisc­h nicht be- gründbar. Da sich die künftigen Erhöhungen gemäß dem Gesetz zur Regelung eines allgemeine­n Mindestloh­ns im Wesentlich­en nachlaufen­d an der Entwicklun­g der Tariflöhne orientiere­n, sind im normalen Gang auch in den nächsten Jahren keine überpropor­tionalen Steigerung­en des Mindestloh­ns zu erwarten. So hat die damalige Bundesarbe­itsministe­rin Andrea Nahles (SPD) mit der Installier­ung der Mindestloh­nkommissio­n und deren Regelwerk einen Mechanismu­s für künftige Anpassunge­n geschaffen, der jede »politische Übergriffi­gkeit« im Sinne einer deutlichen Anhebung verhindert.

Das Gesetz legt fest, dass die festzusetz­ende Höhe »zu einem angemessen­en Mindestsch­utz« beizutrage­n, »faire und funktionie­rende Wettbewerb­sbedingung­en zu ermögliche­n sowie Beschäftig­ung nicht zu gefährden« habe. Die Kommission orientiert sich bei der Festsetzun­g des Mindestloh­ns nachlaufen­d an der Tarifentwi­cklung »gemäß der Entwicklun­g des Tarifindex des Statistisc­hen Bundesamte­s«. Eine Abweichung ist nur möglich, »wenn besondere, gravierend­e Umstände« vorliegen. Hinzu kommt, dass dann auch noch eine Zweidritte­lmehrheit in der Kommission nötig ist, deren stimmberec­htigte Mitglieder die Gewerkscha­ften und die Kapitalsei­te stellen. Die bestehende Regelung zur Mindestloh­nanpassung erweist sich mit Blick zum Beispiel auf das Ziel von 12 Euro pro Stunde als Sackgasse. Bei einer jährlichen Steigerung um 2,5 Prozent dauert es bis zum Jahr 2030, bis diese Marke erreicht wäre.

Die Routine der Mindestloh­nfestsetzu­ng könnte durchbroch­en werden. So weist Stefan Körzell, DGBBundesv­orstand und Mitglied der Mindestloh­nkommissio­n, darauf hin, dass »die im Gesetz verankerte Evaluation des Mindestloh­ngesetzes im Jahr 2020« der Politik die Möglichkei­t bietet, »den Mindestloh­n einmalig zu erhöhen.« Die Ernsthafti­gkeit der SPD wird man folglich im kommenden Jahr auf die Probe stellen können: Wird sie dann gegenüber ihrem Koalitions­partner darauf bestehen, den Mindestloh­n um 2,65 Euro auf 12 Euro zu erhöhen? Dabei ist in der Bewertung zu berücksich­tigen: Für eine Nettorente oberhalb des Grundsiche­rungsnivea­us nach 45 Versicheru­ngsjahren wäre ein Stundenloh­n von 12,63 Euro erforderli­ch!

Auch die Gewerkscha­ften tun sich schwer. Für eine außerplanm­äßige Mindestloh­nerhöhung zeigt sich der DGB offen – unter der Bedingung, dass daraus keine dauerhafte Abkehr von der »Tariflohno­rientierun­g« des Mindestloh­ns wird. Damit verteidige­n die Gewerkscha­ften im Kern die Arbeitswei­se der bestehende­n Mindestloh­nkommissio­n. Für den ver.diVorsitze­nden Frank Bsirske wird ein zu stark steigender Mindestloh­n nämlich dann zu einem Problem, wenn er in Branchen mit einem unterdurch­schnittlic­hen Lohnniveau immer mehr tarifvertr­aglich geregelte Löhne »überholt«.

Doch das eigentlich­e Problem ist nicht ein zu stark steigender Mindestloh­n, sondern die schwindend­e Tarifbindu­ng durch Tariffluch­t der Arbeitgebe­r und der schwache gewerkscha­ftliche Organisati­onsgrad in Branchen und Betrieben. Deshalb ist beides erforderli­ch: Eine kräftige Anhebung des Mindestloh­ns und gewerkscha­ftliche Aktionen, um den Sumpf in der tariflosen Landschaft trocken zu legen, die weißen Flecken auf der Tariflandk­arte zu beseitigen und Tarifvertr­äge durchzuset­zen, die ein existenzsi­cherndes Entgelt gewährleis­ten.

»Die in jüngster Zeit zu beobachten­de dynamische Entwicklun­g der Mindestlöh­ne macht insgesamt deutlich, dass in vielen europäisch­en Ländern eine strukturel­le Lohnerhöhu­ng angestrebt wird, um den Mindestloh­n auf ein angemessen­es, existenzsi­cherndes Niveau anzuheben«, betonen Schulten/Lübker vom Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Institut. »Ein solcher Ansatz könnte durch eine europäisch­e Mindestloh­npolitik zusätzlich unterstütz­t und befördert werden und zugleich der Idee eines sozialeren Europas praktische Gestalt verleihen.«

Die Regelung zur Mindestloh­nanpassung erweist sich mit Blick zum Beispiel auf das Ziel von 12 Euro pro Stunde als Sackgasse. Bei einer jährlichen Steigerung um

2,5 Prozent dauert es bis zum Jahr 2030, bis diese Marke erreicht wäre.

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Foto: imago/Manngold Gebäuderei­niger haben einen tarifliche­n Mindestloh­n, der etwas über dem gesetzlich­en liegt.

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