Wie genial ist das denn überhaupt?
Von den Nöten der Stadtneurotiker: »Den blinden Göttern« von Steven Uhly
Seit dem Tod seiner Mutter hat der Buchhändler Friedrich Keller das große elterliche Haus in München nicht mehr verändert. Die geliebte Bibliothek, ein etwa fünfzig Quadratmeter großer Raum, die Schlafzimmer, die Küche – selbst die kleine Wohnung unterm Dach, in der seine Großeltern gewohnt haben, ließ er so, wie sie war, als sie starben.
Auch sein Kinderzimmer, in dem er immer noch lebt, bekam nur auf Drängen seiner ersten und einzigen Freundin einen neuen Farbanstrich – vor mehr als zwei Jahrzehnten. Dass ihm diese große Liebe dann von seinem Zwillingsbruder Heinrich ausgespannt wurde, war eine nachhaltige Katastrophe: Friedrich Keller ist seitdem jeder Frau aus den Weg gegangen.
Die einzige Person, mit der der Antiheld aus Steven Uhlys Roman »Den blinden Göttern« noch engeren Kontakt hat, ist seine kolumbianische Putzfrau Elvira. Keller hätte einiges an deren Arbeit auszusetzen, aber wagt nicht, etwas zu sagen.
Auch vor seiner jungen und attraktiven Buchhändlerkollegin Irma Müller ergreift er regelmäßig die Flucht. Stattdessen sitzt er am liebsten in seiner Bibliothek und liest. Kurz: Friedrich Keller ist eine Art Peter Kien Münchens, nur dass die Ge- schichte, die Uhly erzählt, anders ausgeht als in Elias Canettis »Blendung«.
Denn eines Tages taucht in der vom Vater gegründeten, von Kellers praktisch veranlagtem zweiten Bruder Gerhard geführten Buchhandlung ein übel riechender Mann auf. Er legt Keller einen Packen Papier auf den Verkaufstresen und sagt, dass er das doch bitte lesen solle. Keller weigert sich, die Blätter anzunehmen, doch der Obdachlose legt den Stapel einfach auf einen der Präsentationstische und geht. Als Keller das Manuskript dann doch nach Hause mitnimmt und zu lesen beginnt, stellt er fest, dass es sich um eine Gedichtsammlung handelt. Sie stammt von einem gewissen Radi Zeiler und trägt denselben Titel wie Uhlys Roman: »Den blinden Göttern«. Bereits mit dem erste Gedicht ist Keller ist so fasziniert, dass er fortan nichts anderes mehr liest. Aber wer ist Radi Zeiler? Sollte es der Obdachlose mit der Alkoholfahne sein? Wie kann ein solch verwahrloster Mensch solch geniale Gedichte schreiben?
Keller versucht Zeiler aufzuspüren und trifft ihn in einer zweifelhaften Kneipe. Zeiler ist wortkarg, sagt kaum etwas. Als Keller geht, hinterlässt er ihm seine Adresse. Prompt steht Zeiler am nächsten Tag in Kellers Haus und tut so, als wäre er dort zu Hause. Und in der Tat, als Putzfrau Elvira ihm die Haare schneidet, be- kommt sie – ebenso wie der herbeigerufene Friedrich Keller – einen Schreck. Der vom Wildwuchs Befreite ist in Wirklichkeit Kellers vor über zwanzig Jahren verschwundener Zwillingsbruder Heinrich, der, der ihm die Freundin ausgespannt hatte. Aber wer ist dann Radi Zeiler?
Immer wieder gibt es in Steven Uhlys Geschichte eine überraschende Wende. Denn das plötzliche Auftreten des Bruders ist noch nicht wirklich die Antwort auf die Frage, wer jene geniale Lyrik verfasst hat. Oder ist sie gar nicht so genial?
Man könnte »Den blinden Göttern« als Thesenroman lesen, aber ebenso als psychoanalytische Allegorie, in der die innerseelischen Akteure des Neurotikers als Figuren auftreten.
Spannend, witzig und unterhaltsam erzählt Uhly von den Nöten seines Stadtneurotikers. Leider ist Friedrich Keller die einzige nuancierte Figur des Buches. Alle anderen Akteure haben – und das würde für die Interpretation als Thesenroman sprechen – einen funktionalen Charakter. Und der gerät manchmal zum Stereotyp, wie bei Putzfrau Elvira oder auch bei der Wirtin, in deren Kneipe Friedrich dann endlich den vermeintlichen Radi Zeiler findet.