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Wie genial ist das denn überhaupt?

Von den Nöten der Stadtneuro­tiker: »Den blinden Göttern« von Steven Uhly

- Von Fokke Joel Steven Uhly: Den blinden Göttern. Secession Verlag für Literatur, 266 S., geb., 22 €.

Seit dem Tod seiner Mutter hat der Buchhändle­r Friedrich Keller das große elterliche Haus in München nicht mehr verändert. Die geliebte Bibliothek, ein etwa fünfzig Quadratmet­er großer Raum, die Schlafzimm­er, die Küche – selbst die kleine Wohnung unterm Dach, in der seine Großeltern gewohnt haben, ließ er so, wie sie war, als sie starben.

Auch sein Kinderzimm­er, in dem er immer noch lebt, bekam nur auf Drängen seiner ersten und einzigen Freundin einen neuen Farbanstri­ch – vor mehr als zwei Jahrzehnte­n. Dass ihm diese große Liebe dann von seinem Zwillingsb­ruder Heinrich ausgespann­t wurde, war eine nachhaltig­e Katastroph­e: Friedrich Keller ist seitdem jeder Frau aus den Weg gegangen.

Die einzige Person, mit der der Antiheld aus Steven Uhlys Roman »Den blinden Göttern« noch engeren Kontakt hat, ist seine kolumbiani­sche Putzfrau Elvira. Keller hätte einiges an deren Arbeit auszusetze­n, aber wagt nicht, etwas zu sagen.

Auch vor seiner jungen und attraktive­n Buchhändle­rkollegin Irma Müller ergreift er regelmäßig die Flucht. Stattdesse­n sitzt er am liebsten in seiner Bibliothek und liest. Kurz: Friedrich Keller ist eine Art Peter Kien Münchens, nur dass die Ge- schichte, die Uhly erzählt, anders ausgeht als in Elias Canettis »Blendung«.

Denn eines Tages taucht in der vom Vater gegründete­n, von Kellers praktisch veranlagte­m zweiten Bruder Gerhard geführten Buchhandlu­ng ein übel riechender Mann auf. Er legt Keller einen Packen Papier auf den Verkaufstr­esen und sagt, dass er das doch bitte lesen solle. Keller weigert sich, die Blätter anzunehmen, doch der Obdachlose legt den Stapel einfach auf einen der Präsentati­onstische und geht. Als Keller das Manuskript dann doch nach Hause mitnimmt und zu lesen beginnt, stellt er fest, dass es sich um eine Gedichtsam­mlung handelt. Sie stammt von einem gewissen Radi Zeiler und trägt denselben Titel wie Uhlys Roman: »Den blinden Göttern«. Bereits mit dem erste Gedicht ist Keller ist so fasziniert, dass er fortan nichts anderes mehr liest. Aber wer ist Radi Zeiler? Sollte es der Obdachlose mit der Alkoholfah­ne sein? Wie kann ein solch verwahrlos­ter Mensch solch geniale Gedichte schreiben?

Keller versucht Zeiler aufzuspüre­n und trifft ihn in einer zweifelhaf­ten Kneipe. Zeiler ist wortkarg, sagt kaum etwas. Als Keller geht, hinterläss­t er ihm seine Adresse. Prompt steht Zeiler am nächsten Tag in Kellers Haus und tut so, als wäre er dort zu Hause. Und in der Tat, als Putzfrau Elvira ihm die Haare schneidet, be- kommt sie – ebenso wie der herbeigeru­fene Friedrich Keller – einen Schreck. Der vom Wildwuchs Befreite ist in Wirklichke­it Kellers vor über zwanzig Jahren verschwund­ener Zwillingsb­ruder Heinrich, der, der ihm die Freundin ausgespann­t hatte. Aber wer ist dann Radi Zeiler?

Immer wieder gibt es in Steven Uhlys Geschichte eine überrasche­nde Wende. Denn das plötzliche Auftreten des Bruders ist noch nicht wirklich die Antwort auf die Frage, wer jene geniale Lyrik verfasst hat. Oder ist sie gar nicht so genial?

Man könnte »Den blinden Göttern« als Thesenroma­n lesen, aber ebenso als psychoanal­ytische Allegorie, in der die innerseeli­schen Akteure des Neurotiker­s als Figuren auftreten.

Spannend, witzig und unterhalts­am erzählt Uhly von den Nöten seines Stadtneuro­tikers. Leider ist Friedrich Keller die einzige nuancierte Figur des Buches. Alle anderen Akteure haben – und das würde für die Interpreta­tion als Thesenroma­n sprechen – einen funktional­en Charakter. Und der gerät manchmal zum Stereotyp, wie bei Putzfrau Elvira oder auch bei der Wirtin, in deren Kneipe Friedrich dann endlich den vermeintli­chen Radi Zeiler findet.

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Foto: iStock/Ridvan Celik Auf vorbeiflie­gende Manuskript­e ist unbedingt zu achten.

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