Zauber im Zwergenreich
»Spätdienst« von Martin Walser mit Maximen und Reflexionen
In mir wächst ein Gefühlchen gegen die Zweiteilung (stark – schwach; groß – klein; glücklich – unglücklich; ideal – nicht ideal). Es ist doch nur, weil die Leute nicht mehr als zwei Dinge denken können. Mehr geht nicht in ein Spatzengehirn. Aber das Gesündeste ist doch einfach: lavieren ...«
Das schreibt Bertolt Brecht, in seinen frühen Tagebüchern. Dies Bekenntnis könnte von Martin Walser stammen. Es könnte als Motto über seinem wunderschönen Buch stehen: »Spätdienst« stehen, das in MiniaturEssays, in Bruchstücken, in Satz-Juwelen, in Vers-Splittern noch einmal eine Confessio zusammenfasst – das, was diesen nunmehr 91-Jährigen zu einem letzten Solitär deutscher Literatur erhebt. Es ist die leise und schreiende, die lautere und larmoyante, die schreckende wie spielerische Begegnung mit dem Daseinsschmerz. Es ist Bestätigung: Das Zusammenfassbare der eigenen Existenz ist eine Illusion. Jedes unsere Sinnes- und Sinn-Organe erzählt heute dies und morgen das. Und wenn das Alter kommt, blicken wir deutlicher als einst ins Netzwerk von Trieb und Triebverstörung, von Motiv und Scheinmotiv. Wir müssen erkennen: nicht mehr viel Prunk an der Hülle; oh, oh – wie durchsichtig doch an seinen abgewetzten Stellen unser äußerer Anschein ist, dort, wo einst Schönheit, Wirkung, Wille war. Aber der Trotz tapert. »Das Alter ist ein Zwergenreich, regiert von jungen Riesen.«
»Spätdienst« ist in diesem Sinne ein so finsternisnahes wie auch heiter funkelndes Alterswerk. Notizen zwischen Selbstironie, sarkastischer Klarheit und melancholischer Hingegebenheit. Augenblickserlebnisse, Innenbilder, Traumschrecken, Auflösungsglück unter Natureindrücken. Liebeserklärungen und Zeitkritik, aphoristisch kristallin oder impressionistisch so hingetupft, dass die Farben aquarellartig ineinanderfließen. Aufgeblättert der ganze komödische Wahnsinn von Erlebniswut, mannesgenetischer Eitelkeit, fataler Oberflächenverstrickung. »Mich treibt die Kälte, die ich erzeuge, zu den Hochöfen meiner Feinde.«
Schreiben ist Walsers Maske, und jede Maske hat die Melancholie eines aufrichtigen Geständnisses, denn sie sagt: Ich bin anders, als ich scheine. Mit einer Maske kann man also aufrichtig reden. So musste dieses Lebens-Buch zwangsläufig auch ein Buch über den wahren Grund des Schreibens werden. Walser sieht Verneinung und Bejahung als gutwertige Gleichzeitigkeit, sein Denken ist Zuspruch im Widerspruch. »Ich bin Asche einer Glut, die ich nicht war.«
Im »Spiegel« ist Walser im November 2018 der wahrscheinlich berührendste Text gelungen, den man über Angela Merkel schreiben kann. Ausgangspunkt war ihm dieser Satz aller Merkel-Sätze: »Wir schaffen das!« Im Essay geht die Rede von einem Handeln in Schönheit, einem Handeln also (und Reden), das wirkt, als geschehe es ohne Willensanteil. Walser denkt – bei Merkel wie in diesem Buch – also über das nach, was im Leben, diesem ununterbrochenen Schuldigwerden, doch trotzdem möglich bleiben müsste: Unschuld. Beim Schreiben gilt für Walser: »Die Sätze, die ich schreibe, sagen mir etwas, was ich, bevor ich sie schrieb, nicht wusste.«
Jeder Text im Buch hat auf seine Weise schamvoll recht, wie er gleichzeitig schamlos verabsolutiert. Walser entdeckt in Alltagswahrnehmungen jenen untilgbaren Rest an Unverhofftem, der sich jeder Auslieferung an den täglichen Darwinismus entzieht. Ein Darwinismus auch des wohlfeilen intellektuellen Hochmuts, der sich mit Weltsorge tarnt, aber doch schön vorsichtig jenseits des Sozialen bleibt: »Auf dem Rücken des arbeitenden Volkes betreiben sie ihren Apokalypsesalon.«
Gerade im Rätselhaften, Zweischneidigen erscheint »Spätdienst« als ein Porträt jener Augenblicke, in denen das »Dasein ästhetisch gerechtfertigt« (Nietzsche) ist, weil es sich als etwas ausprägen darf, zu dem niemand – kein anderer Mensch, keine Ideologie, keine Macht – den Generalschlüssel besitzt. Was freilich trotzdem einschließt, dass sich in diese traurigen, komischen Malheurs von Gewissheits-Erschütterungen (»ich habe nicht den Mut, feige zu sein«) immer wieder eine Ahnung von sehr zwingender Dynamik einschleicht: Brüchigkeit und Tod sind Instanzen, mit denen uns keine Sprechstunde verbindet. Aber jeder von uns bewegt sich in einer ihm unbekannten Geschwindigkeit auf das Ungewisse zu.
Wir reden, als ob wir einfach wären; lieber träumen wir alles, als dass wir es sagen; wenn es einem schlecht geht, denkt man an das Leben; wenn es einem gut geht, an den Tod – Walser ist der großartigste Chronist dieser Verhaltensweisen. Er hat als Schriftsteller keine Herrschaft über sich selbst. Und: Er gibt das offen zu, das genau gibt so vielen Leuten die Chance, sich ihm gegenüber zu erdreisten. »Sie wissen es nicht besser. Aber sie wissen es nicht.« Soll man sich wehren? »Nein. Niemanden überzeugen. Auch nicht sich. Ohne Überzeugung leben. Tastend, nicht sehend ... Niemand ist freier als der Verachtete.«
Da, wo alles durch die Finger rinnt, just da krallt der Eigensinn wie ein Anker. Ein Anker, in die Luft geworfen, als sei dies ein fester Grund. »Lass alles weg, was du nicht kannst, dann bist du gut.«
Jeder Text im Buch hat auf seine Weise schamvoll recht, wie er gleichzeitig schamlos verabsolutiert.