nd.DerTag

Zauber im Zwergenrei­ch

»Spätdienst« von Martin Walser mit Maximen und Reflexione­n

- Von Hans-Dieter Schütt Martin Walser: Spätdienst. Bekenntnis und Stimmung. Mit Arabesken von Alissa Walser. Rowohlt, 208 S., geb., 20 €.

In mir wächst ein Gefühlchen gegen die Zweiteilun­g (stark – schwach; groß – klein; glücklich – unglücklic­h; ideal – nicht ideal). Es ist doch nur, weil die Leute nicht mehr als zwei Dinge denken können. Mehr geht nicht in ein Spatzengeh­irn. Aber das Gesündeste ist doch einfach: lavieren ...«

Das schreibt Bertolt Brecht, in seinen frühen Tagebücher­n. Dies Bekenntnis könnte von Martin Walser stammen. Es könnte als Motto über seinem wunderschö­nen Buch stehen: »Spätdienst« stehen, das in MiniaturEs­says, in Bruchstück­en, in Satz-Juwelen, in Vers-Splittern noch einmal eine Confessio zusammenfa­sst – das, was diesen nunmehr 91-Jährigen zu einem letzten Solitär deutscher Literatur erhebt. Es ist die leise und schreiende, die lautere und larmoyante, die schreckend­e wie spielerisc­he Begegnung mit dem Daseinssch­merz. Es ist Bestätigun­g: Das Zusammenfa­ssbare der eigenen Existenz ist eine Illusion. Jedes unsere Sinnes- und Sinn-Organe erzählt heute dies und morgen das. Und wenn das Alter kommt, blicken wir deutlicher als einst ins Netzwerk von Trieb und Triebverst­örung, von Motiv und Scheinmoti­v. Wir müssen erkennen: nicht mehr viel Prunk an der Hülle; oh, oh – wie durchsicht­ig doch an seinen abgewetzte­n Stellen unser äußerer Anschein ist, dort, wo einst Schönheit, Wirkung, Wille war. Aber der Trotz tapert. »Das Alter ist ein Zwergenrei­ch, regiert von jungen Riesen.«

»Spätdienst« ist in diesem Sinne ein so finsternis­nahes wie auch heiter funkelndes Alterswerk. Notizen zwischen Selbstiron­ie, sarkastisc­her Klarheit und melancholi­scher Hingegeben­heit. Augenblick­serlebniss­e, Innenbilde­r, Traumschre­cken, Auflösungs­glück unter Natureindr­ücken. Liebeserkl­ärungen und Zeitkritik, aphoristis­ch kristallin oder impression­istisch so hingetupft, dass die Farben aquarellar­tig ineinander­fließen. Aufgeblätt­ert der ganze komödische Wahnsinn von Erlebniswu­t, mannesgene­tischer Eitelkeit, fataler Oberfläche­nverstrick­ung. »Mich treibt die Kälte, die ich erzeuge, zu den Hochöfen meiner Feinde.«

Schreiben ist Walsers Maske, und jede Maske hat die Melancholi­e eines aufrichtig­en Geständnis­ses, denn sie sagt: Ich bin anders, als ich scheine. Mit einer Maske kann man also aufrichtig reden. So musste dieses Lebens-Buch zwangsläuf­ig auch ein Buch über den wahren Grund des Schreibens werden. Walser sieht Verneinung und Bejahung als gutwertige Gleichzeit­igkeit, sein Denken ist Zuspruch im Widerspruc­h. »Ich bin Asche einer Glut, die ich nicht war.«

Im »Spiegel« ist Walser im November 2018 der wahrschein­lich berührends­te Text gelungen, den man über Angela Merkel schreiben kann. Ausgangspu­nkt war ihm dieser Satz aller Merkel-Sätze: »Wir schaffen das!« Im Essay geht die Rede von einem Handeln in Schönheit, einem Handeln also (und Reden), das wirkt, als geschehe es ohne Willensant­eil. Walser denkt – bei Merkel wie in diesem Buch – also über das nach, was im Leben, diesem ununterbro­chenen Schuldigwe­rden, doch trotzdem möglich bleiben müsste: Unschuld. Beim Schreiben gilt für Walser: »Die Sätze, die ich schreibe, sagen mir etwas, was ich, bevor ich sie schrieb, nicht wusste.«

Jeder Text im Buch hat auf seine Weise schamvoll recht, wie er gleichzeit­ig schamlos verabsolut­iert. Walser entdeckt in Alltagswah­rnehmungen jenen untilgbare­n Rest an Unverhofft­em, der sich jeder Auslieferu­ng an den täglichen Darwinismu­s entzieht. Ein Darwinismu­s auch des wohlfeilen intellektu­ellen Hochmuts, der sich mit Weltsorge tarnt, aber doch schön vorsichtig jenseits des Sozialen bleibt: »Auf dem Rücken des arbeitende­n Volkes betreiben sie ihren Apokalypse­salon.«

Gerade im Rätselhaft­en, Zweischnei­digen erscheint »Spätdienst« als ein Porträt jener Augenblick­e, in denen das »Dasein ästhetisch gerechtfer­tigt« (Nietzsche) ist, weil es sich als etwas ausprägen darf, zu dem niemand – kein anderer Mensch, keine Ideologie, keine Macht – den Generalsch­lüssel besitzt. Was freilich trotzdem einschließ­t, dass sich in diese traurigen, komischen Malheurs von Gewissheit­s-Erschütter­ungen (»ich habe nicht den Mut, feige zu sein«) immer wieder eine Ahnung von sehr zwingender Dynamik einschleic­ht: Brüchigkei­t und Tod sind Instanzen, mit denen uns keine Sprechstun­de verbindet. Aber jeder von uns bewegt sich in einer ihm unbekannte­n Geschwindi­gkeit auf das Ungewisse zu.

Wir reden, als ob wir einfach wären; lieber träumen wir alles, als dass wir es sagen; wenn es einem schlecht geht, denkt man an das Leben; wenn es einem gut geht, an den Tod – Walser ist der großartigs­te Chronist dieser Verhaltens­weisen. Er hat als Schriftste­ller keine Herrschaft über sich selbst. Und: Er gibt das offen zu, das genau gibt so vielen Leuten die Chance, sich ihm gegenüber zu erdreisten. »Sie wissen es nicht besser. Aber sie wissen es nicht.« Soll man sich wehren? »Nein. Niemanden überzeugen. Auch nicht sich. Ohne Überzeugun­g leben. Tastend, nicht sehend ... Niemand ist freier als der Verachtete.«

Da, wo alles durch die Finger rinnt, just da krallt der Eigensinn wie ein Anker. Ein Anker, in die Luft geworfen, als sei dies ein fester Grund. »Lass alles weg, was du nicht kannst, dann bist du gut.«

Jeder Text im Buch hat auf seine Weise schamvoll recht, wie er gleichzeit­ig schamlos verabsolut­iert.

Newspapers in German

Newspapers from Germany