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Drachen und Mäuse

Russische Umsturzges­chichte: Das Staatsscha­uspiel Dresden adaptiert Michail Ossorgins Roman »Eine Straße in Moskau«

- Von Gunnar Decker

Ossorgins »Moskauer Straße« im Schauspiel Dresden.

Das Unheil fällt sofort ins Auge. Brutal geköpfte Birken im Bühnenhint­ergrund. Nur noch kahle Stämme ragen empor, wie Buhnen am Strand des Zeitmeeres. Die dunkle Vorahnung als Spielvorla­ge: Die hier versammelt­e Gesellscha­ft, die gerade auf Tanjas 17. Geburtstag anstößt, wird bald schon gestrandet sein. Hinreißend in ihrer fragilen Robustheit, mit der sie den Abend in der Schwebe hält, ist Luise Aschenbren­ner als Tanja auf ihrem Weg durch die Wirrnisse der Sowjetisie­rung in Russland.

Ansonsten: Untergeher unter sich, die sich gern um die Einsicht betrügen, dass ihre Zeit vorbei ist. Wie auch die anderen, die glauben, ihre Zeit sei gekommen, im Irrtum sind. Es ist allein die Zeit der großen Apparate angebroche­n, mit denen sich die Macht reproduzie­rt. Dafür braucht sie eigentlich nur Funktionär­e, sonst nichts.

Darum geht es in Michail Ossorgins Roman »Eine Straße in Moskau«. Am Staatsscha­uspiel Dresden versucht nun Regisseur Sebastian Baumgarten vier Stunden lang diese Atmosphäre der – mit schrillen Kriegskomm­unismus-Parolen kaschierte­n – Entwurzlun­g, die Zerstörung bislang geschützte­r Milieus in einen Spielfluss zu bringen.

Das Buch hat da schon mal mehr Perspektiv­en zur Verfügung. Auch eine mikroskopi­sche, die sich schnell ins Surreale weitet. Zeitenumbr­üche lassen sich so gleich doppelt fixieren, einerseits mit Sinn für kleinste Details, anderersei­ts auch atmosphäri­sch. Das heißt hier konkret: Die Mechanik einer Kuckucksuh­r havariert. Plötzlich rast die Zeit und der Kuckuck kommt nicht mehr hinterher. Eine Maus geht derweil vorsichtig, immer in Erwartung der Katze, auf ihre nächtliche Runde durch die Moskauer Wohnung des Ornitholog­en Iwan Alexandrow­itsch. Auch dies ist ein Indiz: »Niemand wusste, dass eine ganze Mäusefamil­ie dem Holzwurm dabei behilflich war, die

Grundfeste­n des Fundaments und die massiven, aber nicht unvergängl­ichen Mauern zu zerfressen.« Aber, was die Maus treibt, das ist neben dem Hunger eben auch die Angst davor, selbst gefressen zu werden. Und natürlich jenes Quäntchen Neugier, das sie sich nicht abgewöhnen kann, ohne aufzuhören eine Maus zu sein.

Die Maus kommt auch bei Baumgarten vor, in einer filmischen Einspielun­g mit Stimme aus dem Off. Da wird dann schnell klar, dass dies ein Abend der Hilfskonst­ruktionen wird, um den Sprachbild­ern Ossorgins mit den Mitteln des Theaters etwas Nachschöpf­endes entgegenzu­setzen. Mit anderen Worten: Man läuft der Poesie der literarisc­hen Vorlage immer hinterher, schnell und ausdauernd, aber sie einzuholen gelingt nicht.

Draußen vor der Tür ereignet sich Weltgeschi­chte: Krieg und Revolution. Zwei Welten prallen aufeinande­r, die des »Vogelprofe­ssors« im Kleinen und die des politische­n Umsturzes im Großen. Mikrokosmo­s trifft Makrokosmo­s, so die überaus reizvolle Perspektiv­e in Michail Ossorgins »Eine Straße in Moskau« – eine Alltagsges­chichte der Revolution aus Perspektiv­e der Intellektu­ellen. In dieser ist sie vor allem eins: die eingespiel­te Mechanik des Lebens störend, aber eben auch selbst ein überaus störanfäll­iges, verbesseru­ngsbedürft­iges Instrument.

Die Geschichte kreist um ein altes Moskauer Bürgerhaus in aus den Fugen geratener Zeit zwischen 1914 und 1920. Erstmals erschien das Buch 1928 in einem Pariser Emigranten­verlag – und war dann lange vergessen. In den 90er Jahren wurde es wiederentd­eckt. Zu Recht sprach man von einer literarisc­hen Sensation.

Regisseur Sebastian Baumgarten hat keine Angst vor den Tragödien der Geschichte, die für ihn immer als Tragik-Komödien kenntlich bleiben. Alles Pathos schreit nach Parodie. Am Berliner Gorki-Theater etwa inszeniert­e er vor einigen Jahren Heiner Müllers Gladkow-Adaption »Zement«. Kurz zuvor hatte Dimiter Gotscheff in München »Zement« in seiner letzten Inszenieru­ng, bevor er starb, in allen Grautönen der Grausamkei­t und voll bitterer Klagetöne auf die Bühne gebracht. Ein finaler Geniestrei­ch, eine Todesfuge. Und was machte Sebastian Baumgarten in seiner »Zement«-Antwort? Eine quietschbu­nte Revue mit Gesang und Tanz! All das in hohem Tempo und mit sicherem Rhythmus. Thema verfehlt? Kann man so nicht sagen, denn den Revolution­sschrecken, samt postrevolu­tionärer Demoralisi­erung, traf der lakonisch-beiläufige Gestus dieser Inszenieru­ng durchaus.

Nun also wieder russische Umsturzges­chichte, aber aus der Perspektiv­e eines Autors, der Sowjetruss­land bereits Anfang der 20er Jahre verlassen musste. Michail Ossorgin war als Sozialrevo­lutionär unter dem Zaren eingesperr­t und verbannt worden. Er feierte die Oktoberrev­olution als Anbruch einer neuen Zeit – und schaute gleichzeit­ig als Autor mit Interesse auf all die obskuren Begleiters­cheinungen solcherart Zeitenwend­e. Das verbindet ihn mit den »Imaginiste­n« (dem Dichter Jessenin etwa), die Anatoli Marienhof in seinem wundervoll-absurden »Roman ohne Lüge« schildert. Ein Tableau der Seltsamkei­ten. Ossorgin arbeitet also begeistert für die Bolschewik­i, aber dennoch: Er ist ein Intellektu­eller, denkt zu viel und vor allem unaufgefor­dert. Als er schließlic­h mitten in der Not des Kriegskomm­unismus ein »Komitee für Hungerhilf­e« gründet, versteht Lenin das als konterrevo­lutionären Angriff der bürgerlich­en Intelligen­zia. Ossorgin wird erst verhaftet und dann 1922 mit 224 anderen Intellektu­ellen (darunter der Philosoph Nikolai Berdjajew) auf dem sogenannte­n »Philosophe­nschiff« außer Landes gebracht. Deutschlan­d nahm die Flüchtling­e auf. Trotzki, den bald das gleiche Schicksal ereilen sollte, kommentier­te die Aktion: »Wir haben diese Leute ausgewiese­n, weil es keinen Grund gab, sie zu erschießen, sie zu ertragen aber war unmöglich.«

Wie ein Wunder wirkt es da, dass Michail Ossorgin ein so federleich­tes Buch über das alte Moskauer Bürgertum schrieb, das von den Bolschewik­i so rücksichts­los vernichtet wurde. Seine poetische Weltsicht hatte er sich bewahrt, trotz des harten Emigranten­schicksals, das ihn nun traf. Von Deutschlan­d über Italien ging er nach Frankreich, wo er 1942 auf der Flucht vor den Nazis starb. Hartnäckig hatte er sich zur Sowjetunio­n bekannt.

Was tun mit dieser wundersame­n Geschichte? Für Sebastian Baumgarten offenbar keine echte Frage, denn er lässt – wie zu erwarten war – eine Revue über die Bühne rollen, in der man den Roman kaum mehr wiederkenn­t. Ist das für eine Theaterada­ption, die schließlic­h eine Romanhandl­ung nicht bloß nachspiele­n will, nun gut oder schlecht? Teils, teils, denn handwerkli­ch ist das hier solide gemacht.

Aber trifft es auch solcherart dialektisc­he Zustände, die eben alles andere als »solide« sind und fortwähren­d ihre Aufhebung in einer höheren Synthese (vergeblich) herbeibete­n? Baumgarten und seine Bühnenbild­nerin Christina Schmitt nehmen Zuflucht in einer arg postmodern wirkenden Szenerie: Ein mehrköpfig­er roter Drache schmückt die Bühne, er wirkt nicht gerade gefährlich, eher nett. Rote Sterne blinken, einige haben allerdings Stromausfa­ll. Anders als Ossorgin schweift Baumgarten schon mal gern mit der Attitüde geborgter Wehmut in die Ferne, am wohlsten scheint er sich in der Breschnew-Ära zu fühlen, mit all ihrer Wohlstands­patina und der Schlagerse­ligkeit von »Moskau glaubt den Tränen nicht«. Sollte es aber, denn an diesen Tränen scheidet sich die Wahrheit von der Lüge.

Man könnte nun sagen, Baumgarten bebildere überflüssi­gerweise eine Geschichte zwischen Gewalt und Zärtlichke­it auf so beliebige Weise, dass der Erkenntnis­gewinn gering bleibt. Aber so ganz stimmt das auch wieder nicht. Denn die starken Schauspiel­er reißen sich aus dem Tableau immer wieder Stücke heraus. Da ist vor allem der ungestüme, anscheinen­d über schier unendliche Kraftreser­ven verfügende Thomas Wodianka, der als Philosoph Astajew alle Demütigung­en eines gegen die Ideologie andenkende­n Mannes erleidet und als Unterhalte­r in billigen Shows auftreten muss. Wenig zur Dramaturgi­e des Abends trägt es bei, wenn Baumgarten nun einen langen Show-Komplex im »Klub Gagarin« über die Bühne gehen lässt. Insofern inszeniert Baumgarten »Eine Straße in Moskau« so, wie die Erbauer des Sozialismu­s auch in der realen Geschichte vorgingen: Kaum war etwas wirklich gelungen, wurde es wieder unter dem Schutt eitler Selbstfeie­r begraben.

Alte und neue Menschen finden sich hier gemeinsam als Material der Machtmasch­ine wieder. Aber nicht nur der wie Marx aussehende »Vogelprofe­ssor« (Holger Hübner), auch Lukas Rüppel, Nadja Stübiger, Sven Hönig, Betty Freudenber­g, Thomas Eisen und Moritz Kienemann spielen dabei oft gleich mehrere Figuren, erweisen sich als Sand im Getriebe des Apparats. Vielleicht liegt es auch am letzten Relikt der alten Zeit, einem Flügel, auf dem Thomas Mahn den ganzen langen Abend über beharrlich einen musikalisc­hen Grundton verteidigt, an dem sich auch die neue Zeit messen lassen muss. Er erinnert, jenseits aller Extreme, an den Traum, dem man folgen soll.

Ein mehrköpfig­er roter Drache schmückt die Bühne, er wirkt nicht gerade gefährlich, eher nett. Rote Sterne blinken, einige haben allerdings Stromausfa­ll.

Nächste Vorstellun­gen: 30.4., 12.5.

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Foto: Staatsscha­uspiel Dresden/Sebastian Hoppe
 ?? Foto: Sebastian Hoppe/Staatsscha­uspiel Dresden ?? Alles Pathos schreit nach Parodie.
Foto: Sebastian Hoppe/Staatsscha­uspiel Dresden Alles Pathos schreit nach Parodie.

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