Libyen versinkt erneut im Krieg
Tausende fliehen vor Kämpfen um Tripolis. Eine Lösung ist nicht in Sicht
Berlin. Trotz internationaler Rufe nach einer Feuerpause gehen die Kämpfe in Libyen unvermindert weiter. Bislang wurden mindestens 120 Menschen getötet und über 500 verletzt. Vor elf Tagen hatte der General Khalifa Haftar zum »Marsch auf Tripolis« gerufen. Er ignorierte damit ein Abkommen von Ende Februar, in dem sich beide Parallelregierungen auf gemeinsame Wahlen zur Wiedervereinigung des Landes geeinigt hatten.
Mittlerweile haben die Kämpfe die südlichen Wohnviertel von Tripolis erreicht. Beide Seiten fliegen Luftangriffe auf die Stellungen des anderen – über 9500 Menschen sind auf der Flucht. Italienischen Medienberichten zufolge sollten am Montag in Rom Gespräche zur Krise in Libyen geführt werden. Der stellvertretende Ministerpräsident der Einheitsregierung, Ahmed Maitik, hat Europa vor Verhandlungen mit General Khalifa Haftar gewarnt.
»Haftar verkauft Europa, der Welt, die Idee, dass er den Terrorismus besänftigen wird. Und stattdessen wird er für 30 Jahre einen Bürgerkrieg, für 30 Jahre die Herrschaft der Terrormiliz IS, für 30 Jahre Verwüstung herbeiführen«, sagte Maitik der italienischen Tageszeitung »La Repubblica« am Montag. General Haftar hat in einem Brief an den italienischen Premierminister Giuseppe Conte seine Teilnahme an der Krisensitzung »aus Vertrauensgründen« abgesagt und eine Delegation nach Rom entsandt.
Das europäische Interesse an Libyen liegt vor allem darin, dass man die Küstenwache der Einheitsregierung finanziell unterstützt, um die Tausenden Flüchtlinge an einer Überfahrt zu hindern. Deshalb hat der Unions-Fraktionsvize im Bundestag, Johann Wadephul (CDU), über einen möglichen Bundeswehreinsatz im Rahmen einer UN-Mission gesprochen. Denn der drohende Bürgerkrieg könnte die Abschottungspolitik Europas gefährden.
Beide Seiten bestehen aus etlichen Milizen, welche die Interessen lokaler Machthaber vertreten und nur zweckgerichtete Allianzen mit den Regierungen schließen.
Eigentlich sollten in diesen Tagen Wahlen zur Wiedervereinigung Libyens vorbereitet werden. Doch stattdessen wird geschossen. Es gibt Hunderte Verletzte – Tausende Menschen sind auf der Flucht.
Der Krieg in Libyen spitzt sich zu. Seitdem der General Khalifa Haftar am 3. April seine Libysche Nationalarmee (LNA) zum »Marsch auf Tripolis« befohlen hatte, wird ununterbrochen gekämpft. Die Front verläuft mittlerweile durch mehrere Wohngebiete im Süden von Tripolis, der Hauptstadt der international anerkannten Regierung (GNA) von Ministerpräsident Fayez al-Sarradsch. Dieser wird von den Vereinten Nationen unterstützt, hat jedoch kaum Kontrolle über Tripolis hinaus.
In dem ölreichen nordafrikanischen Land konkurrieren seit ihrer Spaltung 2014 die zwei Regierungen um die Macht. General Khalifa Haftar ist mit dem Parlament im Osten des Landes verbunden und kontrolliert mit seiner LNA große Gebiete im Osten und Süden Libyens. AlSarradsch äußerte am Sonntag sein Bedauern über die neuerlichen Kämpfe. »Wir hatten gehofft, heute an einer nationalen Konferenz teilzunehmen, die die Libyer zum Dialog über Wege aus der Krise gebracht hätte«, sagte der Regierungschef. »Aber eine Partei versucht, das Land in den Krieg zu stürzen.«
Für das vergangene Wochenende war eine nationale Versöhnungskonferenz in der Stadt Ghadamis unter Vermittlung der Vereinten Nationen vorgesehen. Die Konferenz wurde mehr als eineinhalb Jahre vorbereitet, um alle Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen. Aufgrund der neuerlichen Kämpfe hatte UN-Sondervermittler Ghassan Salamé die Konferenz auf unbestimmte Zeit verschoben.
Durch die Auseinandersetzungen sind nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mindestens 8000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben worden. Haftars Truppen treffen auf erbitterten Widerstand, konnten jedoch in der vergangenen Woche den Internationalen Flughafen einnehmen. Mehrfach hatte es Berichte über Angriffe auf medizinisches Personal und Ersthelfer gegeben. Die WHO berichtete zudem, dass seit Ausbruch der Kämpfe am 3. April mindestens 121 Menschen getötet und mehr als 560 verletzt worden seien. Beide Seiten fliegen Luftangriffe auf feindliche Stellungen, die sich oft in Wohngebieten befinden.
Mit der der GNA von Ministerpräsident Fayez al-Sarradsch verbündete Truppen meldeten am Sonntag, sie hätten einen Kampfjet der LNA südlich von Tripolis abgeschossen. Ein Kommandant Haftars machte dagegen einen technischen Fehler für den Absturz verantwortlich. Wie ein Anwohner der Deutschen Presseagentur berichtete, kamen durch den Absturz zwei Menschen ums Leben, als das Kampfflugzeug in ein Wohngebiet stürzte. Drei weitere Personen seien verletzt ins Krankenhaus gebracht worden.
Statt zu der geplanten Nationalkonferenz kam es am Sonntag zu einem Treffen zwischen dem 75 Jahre alten General Haftar und dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah alSisi in Kairo. Ägypten gilt neben den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien als Unterstützer Haftars. Al-Sisi betonte bei dem Treffen seine Unterstützung für Haftar und dessen »Kampf gegen Terrorismus und radikale Milizen«. Unter der Parole des Anti-Terror-Kampfes hatte Haftar weite Teile des Landes unter seine Kontrolle gebracht. International gibt es große Bedenken, dass Libyen erneut in einen umfassenden Bürgerkrieg abdriften könnte. Die Lage ist kompliziert: Weder Haftars LNA noch die Truppen der Einheitsregierung sind klar einer politischen Ideologie zuzuordnen. Beide Seiten bestehen aus etlichen Milizen, welche die Interessen lokaler Machthaber vertreten und nur zweckgerichtete Allianzen mit den Regierungen schließen. Den »Kampf gegen den Terrorismus« verwendet Haftar als Aushängeschild, um jegliches Vorgehen gegen seine Gegner zu begründen.
Doch auch auf seiner Seite kämpfen religiöse Extremisten. Die Allianz salafistischer Milizen mit Haftars Truppen begann während des zweiten libyschen Bürgerkriegs von 2014 bis 2017. Damals hatte sich der Ableger des Islamischen Staates in Libyen (IS) in der Stadt Benghazi festgesetzt. Um den IS von dort zu vertreiben, verbündete sich General Haftar mit anderen religiösen Gruppen, hauptsächlich aus der Strömung der Madchaliten. Diese geben sich nach außen als politische Quietisten: Sie selbst leben streng nach eigener Interpretation des islamischen Gesetzes, nach außen aber geben sie sich politisch enthaltsam, solange die staatliche Macht ihnen das religiöse Leben nicht verwehrt.
Die Zusammenarbeit zwischen bewaffneten Salafisten und General Haftar beschleunigte jedoch ihre Machtausweitung in Libyen. Von politischer Zurückhaltung zeugt ihr Handeln nicht. In den Orten, wo sie stationiert sind, bestimmen sie die örtliche Politik und Verwaltung als Defacto-Milizionäre-Machthaber. Es gibt berichte darüber, wie madchalitische Milizen etwa örtliche Kulturveranstaltungen wegen unislamischer Inhalte verboten haben sollen.
Auch abseits der Front im Norden Libyens bleibt es unruhig. Zurzeit nutzt der libysche Ableger des Islamischen Staates (IS) die aktuelle Offensive, um im Inland ihre Operationen zu intensivieren, da die Aufmerksamkeit der großen Konfliktparteien derzeit auf den Kampf um die Hauptstadt gerichtet ist. In den letzten Tagen griffen sie wiederholt Städte in den abgelegenen Regionen Jufra und Sabha ein. Über ihre eigenen Medienkanäle veröffentlichte der IS Bilder davon, wie ihre Kämpfer völlig unbehindert in die Ortschaft Fuqaha eindrangen und mehrere Bewohner exekutierten.
Die für das Wochenende geplante libysche Nationalkonferenz zur Vorbereitung gemeinsamer Wahlen ist geplatzt. Stattdessen spitzen sich die Kämpfe der verfeindeten Regierungen zu. Tausende Menschen fliehen, noch viel mehr harren in Internierungslagern aus.