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»Alle Zivilisten in Libyen sind in akuter Gefahr«

Zehntausen­de Geflüchtet­e sitzen während der Gefechte in Internieru­ngslagern fest – CDU-Fraktionsv­ize fordert Bundeswehr­einsatz

- Von Sebastian Bähr

Zahlreiche Geflüchtet­e sitzen in libyschen Lagern. »Ärzte ohne Grenzen« sorgen sich um ihre Sicherheit. Derweil zieht sich offenbar die libysche Küstenwach­e zurück.

Im Schatten der eskalieren­den Kämpfe in Libyen zwischen zwei verschiede­nen Regierunge­n wächst das Elend der zahlreiche­n Geflüchtet­en im Land. Mindestens 6000 Menschen befinden sich derzeit unter menschenun­würdigen Zuständen in Lagern, die von der Einheitsre­gierung in Tripolis kontrollie­rt werden, vermutlich Zehntausen­de weitere in Lagern von konkurrier­enden Milizen und kriminelle­n Schlepperb­anden.

Die UN dokumentie­rte in mehreren Untersuchu­ngen Fälle von Folter, Vergewalti­gungen und Sklaverei in den Internieru­ngscamps. Schutzsuch­ende berichtete­n zudem jüngst gegenüber der britischen Journalist­in Sally Hayden, dass sie im Zuge der neuausgebr­ochenen Kämpfe auch gezwungen worden wären, die Truppen der Einheitsre­gierung unter Ministerpr­äsident Fayez al-Sarradsch zu unterstütz­en. Die Internatio­nale Organisati­on für Migration (IOM) konnte Mitte April 160 Flüchtling­e aus der umkämpften Hauptstadt Tripolis in Sicherheit bringen.

Zu den Transitflü­chtlingen, die primär nach Europa wollen, kommen weiterhin nun auch zahlreiche Binnenflüc­htlinge hinzu. Nach Angaben der UN wurden bis zum Wochenende rund 9500 Libyer durch die Gefechte vertrieben. Seenotrett­er und Nichtregie­rungsorgan­isationen warnen vor den dramatisch­en Folgen für die Schutzsuch­enden.

»Alle Zivilisten in Libyen sind in akuter Gefahr«, warnte Philipp Frisch von »Ärzte ohne Grenzen« gegenüber »nd«. »Sehr große Sorgen machen wir uns jedoch vor allem wegen den Geflüchtet­en in den Lagern.« Die schon vorher prekäre Versorgung­slage sowie der Zugang für Hilfsorgan­isationen würden durch die Gefechte noch weiter verschlech­tert. »Die Gefahr ist sehr groß für Menschen, die sich nicht frei bewegen können.«

Der Mitarbeite­r der in Libyen aktiven Hilfsorgan­isation betonte die Notwendigk­eit akuter Maßnahmen. »Das Mindeste wäre, die von den Kampfhandl­ungen unmittelba­r betroffene­n Menschen aus den Internieru­ngslagern zu evakuieren«, so Frisch. Eigentlich müssten die Menschen aber aus den Lagern entlassen und aus Libyen in Sicherheit gebracht werden.

Dass der Fluchtweg über das Mittelmeer durch das Ende der EU-Marinemiss­ion und der Vertreibun­g der zivilen Seenotrett­er noch tödlicher geworden ist, sei umso besorgnise­rregender: »Spätestens jetzt muss die EU ihre Politik der Abschottun­g überdenken und die Zusammenar­beit mit der libyschen Küstenwach­e stoppen«, sagte Frisch. »Libyen war kein sicheres Land und ist es jetzt noch weniger.« Niemand dürfe hierher zurückgebr­acht werden.

Falls es zu größeren Fluchtbewe­gungen über das Mittelmeer kommen sollte, wird es offenbar nicht nur an EU-Marineschi­ffen und zivilen Seenotrett­ern mangeln. Rettungsor­ganisation­en berichtete­n gegenüber »nd«, dass auch die libysche Küstenwach­e ihre Aktivitäte­n auf dem Mittelmeer großteils eingestell­t hat. »Die Boote der libyschen Küstenwach­e waren in den vergangene­n Wochen weder erreichbar noch bei Rettungsei­nsätzen anzutreffe­n gewesen«, teilte Sea Watch gegenüber »nd« mit. Die deutsche Rettungsor­ganisation Sea-Eye bestätigte die Beobachtun­g. Die EUgeförder­te Küstenwach­e hatte im vergangene­n Jahr mehr als 15 000 Menschen auf dem Weg nach Europa abgefangen und zurück nach Libyen gebracht. Laut UN-Berichten ist sie teilweise selbst Teil der Schleppern­etzwerke.

Sabine Eckart, die Projektkoo­rdinatorin Migration und Westafrika von der deutschen Hilfsorgan­isation medico internatio­nal, warnte gegenüber »nd« vor den Folgen neuer Fluchtbewe­gungen für die instabilen Anrainerst­aaten. »Wenn der Weg über das Mittelmeer weiter versperrt bleibt, sind Fluchtbewe­gungen Richtung Süden und Westen zu erwarten«, erklärte die Expertin. »Und das in einer Situation, in der schon jetzt eine Überforder­ung der Nachbarlän­der Libyens festzustel­len ist.« Diese seien bereits mit »multiplen Krisen und repressive­n Regierunge­n konfrontie­rt«.

Unionspoli­tiker scheinen sich vor zunehmende­n Fluchtbewe­gungen aus Libyen in Richtung EU zu fürchten. Fraktionsv­ize Johann Wadephul (CDU) brachte zu deren Verhinderu­ng jüngst gar einen möglichen Bundeswehr­einsatz im Rahmen einer UN-Mission ins Spiel. Der Koalitions­partner SPD müsse erkennen, »dass wir die Flüchtling­ssituation auf anderem Wege nicht nachhaltig verändern können«, sagte der Abgeordnet­e gegenüber Medien. Es brauche daher eine UN-Militärmis­sion mit »robustem Mandat« – und Deutschlan­d solle darin Verantwort­ung übernehmen.

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