»Estonia«-Überlebende wollen Geld
25 Jahre nach Untergang des Schiffes: Prozess um 41 Millionen Euro Schadenersatz / Auch Werft in Niedersachsen beklagt
Vor 25 Jahren sank die »Estonia« in der Ostsee, 852 Menschen starben. Erst jetzt beginnt ein Schadenersatzprozess zum Unglück. Beklagt sind ein französisches Prüfbüro und die Meyer-Werft in Niedersachsen.
Kreuzfahrtriesen sind das bekannteste Geschäft der Meyer-Werft in Papenburg. Immer dann, wenn eines ihrer »schwimmenden Traumhotels« den niedersächsischen Traditionsbetrieb verlässt, säumen Schaulustige die Elbe, bewundern die Luxusliner. Wo diese Schiffe gebaut werden, entstand im Jahr 1980 auch die Fähre »Estonia«, die am 29. September 1994 auf der Fahrt von Estland nach Schweden zwischen Tallinn und Stockholm in der Ostsee versank.
Von den 989 Menschen an Bord kamen nach offiziellen Angaben 852 ums Leben. Überwiegend Angehörige jener Toten sowie Überlebende der Katastrophe fordern schon seit Jahren Schadenersatz wegen des erduldeten Leids; erst jetzt befasst sich ein Gericht mit der Sache.
Begonnen hat der Prozess in Nanterre bei Paris, weil dort das Prüfbüro sitzt, das der »Estonia« seinerzeit Seetüchtigkeit bescheinigt hatte. Doch das Schiff sei offenbar nicht seetüchtig gewesen, sagen die Anwälte der 1116 Klägerinnen und Kläger. Ihre Anträge richten sich auch gegen die Meyer-Werft. Das wird folgendermaßen begründet: Sie habe vermutlich beim Bau der Fähre folgenschwere Fehler im Bereich der Heckklappe begangen. Diese hatte sich laut amtlicher Untersuchungsberichte in der Unglücksnacht geöffnet, sodass Wasser einströmte und das Schiff zum Sinken brachte.
Die Kläger hätten durch das Geschehen psychische Beeinträchtigungen erlitten, argumentieren deren Anwälte. Sie fordern für ihre Mandanten rund 41 Millionen Euro. Der lange Weg durch die Instanzen, so erläutern die Prozessbevollmächtigten, habe dazu geführt, dass erst jetzt ein Prozess angesetzt wurde.
Ob in seinem Verlauf endgültig die tatsächliche Ursache des Untergangs geklärt werden kann, ist fraglich. Seit dem Versinken der »Estonia« wird trotz aller offizieller Versionen gerätselt, wird spekuliert, streiten sich Experten, kursieren Verschwörungstheorien.
Die Meyer-Werft hatte den Vorwurf, ihr sei ein Konstruktionsfehler unterlaufen, schon vor Jahren zurückgewiesen und das mit Gutachten untermauert. In einem Untersuchungsbericht von 1997 waren mögliche Konstruktionsfehler an der Bugklappe erwähnt worden. Ihre Schließvorrichtung sei zu schwach gewesen, deshalb sei sie in stürmischer See abgerissen, hieß es in dem offiziellen Papier.
Doch ist das die Wahrheit? Wollten die Behörden irgendetwas verschleiern – die tatsächliche Ursache der Katastrophe verbergen? Hat die schwedisch-estnische Reederei des Schiffes, die den Überlebenden und Angehörigen damals 130 Millionen Euro Entschädigung zahlte, irgendetwas in punkto Sicherheit versäumt?
Privatleute unternahmen verbotene Tauchgänge zur »Estonia«. Ein Loch, so hieß es, sei dabei gesichtet worden. Es könne von einer Bombenexplosion stammen. Metallreste, vom Schiff geborgen, wurden durch verschiedene Institute untersucht; sie stützten oder widerlegten die Explosionsthese.
Erpresser hätten Geld von der Reederei gefordert, es nicht bekommen, und deshalb Sprengkörper im Schiff gezündet – so wurde gemunkelt. Die wildeste Hypothese war wohl die Story von westlichen Agenten, die mit der »Estonia« diverse Hightech-Waffen aus Russland schmuggeln wollten. Damit diese Mission scheiterte, sei die Fähre von russischen Geheimdienstlern gesprengt worden.
Noch ist offen, wie sich das Gericht in Nanterre bis zu einer Entscheidung im Sommer der Wahrheit nähern will. Auch durch Sichten von Videoaufnahmen, die ein Tauchroboter seinerzeit machte – dort, wo die »Estonia« in 85 Metern Tiefe liegt? Sie ist zur Grabstätte erklärt worden.