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Schiedsric­hter bekommen zunehmend Schubladen­angst

Wolffs Müllabfuhr

- Von Tim Wolff

Das Wort »zunehmend« ist eine Sprachpest. Es greift so simpel wie unbelegt diffuse Gefühle ab: dass alles, gut wie schlecht, stetig mehr würde. Vom Kapitalism­us und seinen Journalist­enschulen zugerichte­te Schreibkrä­fte können wohl nicht anders, als das falsche Verspreche­n vom ewigen Wachstum überall mit hineinzulü­gen. Außerdem klingt jeder Mist gleich viel wichtiger, wenn er etwas Zunehmende­s beschreibt.

Beginnt also ein Text, wie der »Fahnen runter« überschrie­bene des »Zeit«-Redakteurs Jochen Bittner, mit »Das zunehmende Bedürfnis vieler Journalist­en ...« weiß man, jetzt wird es richtig wichtig – denn die Zunahme betrifft auch noch die wichtigste aller Berufsgrup­pen. Im Ganzen: »Das zunehmende Bedürfnis vieler Journalist­en, der Öffentlich­keit zu beweisen, wo sie politisch stehen, ist unübersehb­ar« – womit »viele Journa

listen« mehr beweisen als der eine, Jochen Bittner, der »etwas ist zunehmend, weil es unübersehb­ar ist« für eine Tatsachenb­eschreibun­g hält statt für redundante­n Gefühlsqua­tsch. Weswegen er auch sofort zur Herablassu­ng des Bescheidwi­ssers übergeht: »Psychologi­sch ist der Verortungs­wunsch verständli­ch. In polarisier­ten Zeiten, in denen die Einsortier­ung von Menschen schneller vonstatten geht als die Prüfung ihrer Argumente, will niemand in der falschen Schublade landen. Trotzdem sind allzu klare öffentlich­e Positionie­rungen von Journalist­en falsch, denn sie befördern ebenjenes polarisier­te Klima, in dem die Schubladen­angst erst gedeiht.«

Was er damit sagen will? Keine Ahnung, vermutlich: In einem polarisier­ten Klima gedeiht eine Schubladen­angst, die einen Verortungs­wunsch erzeugt.

Aber wie geht Journalism­us wirklich? »Berichters­tatter sind Schiedsric­hter der öffentlich­en Debatte. Fallen sie aus der Rolle, indem sie dem Ball einer Mannschaft einen Schubs geben, leidet ihre Autorität.« Berichters­tatter sind Schiedsric­hter? Hätte Bittner wohl gern, aber er kann sich noch so einen abtrillern, auf seine Entscheidu­ngen wird kein Debattente­ilnehmer hören. Ich spreche aus bittnerer Erfahrung: Noch nicht mal Blödwörter wie »zunehmend« wird man los, egal wie zunehmend man Journalist­en rote Karten zeigt. Außerdem machen Berichters­tatter Debatten öffentlich, wie das im Sport nicht Schiedsric­hter, sondern, Achtung: Berichters­tatter tun. Aber selbst die geben keinem Ball einer Mannschaft einen Schubs, weil es keinen Sport gibt, in dem beide Mannschaft­en jeweils einen Ball haben – oder Bälle geschubst werden.

Wenn Schiedsric­hter mit dem Regelwerk umgingen wie Bittner mit dem der Sprache, es litte nicht nur ihre Autorität. Aber so etwas muss einen Mann nicht kümmern, der schon mal Kabarettis­ten juristisch verfolgt, wenn sie seine politische­n Aktivitäte­n ausstellen, aber heroisch verkündet: »Journalist­en sind Diskursbef­euerer, ihre Methode ist die Kritik, ihr Mittel die Vernunft, ihr Maßstab die Humanität – gegen jeden und alles.«

Wer jeder und alles ist, erkennt man an den einzigen beiden Beispielen, die Bittner für das »zunehmende Bedürfnis« aufführt: die Teilnahme des »Monitor«-Redaktions­leiters Georg Restle an einer antirassis­tischen Demo und einen »Nazis raus«-Tweet von »Deutschlan­dfunk Kultur«.

Das könnte der Öffentlich­keit beweisen, wessen Bälle dieser Diskursbef­euerer gerne schubst. Aber einer, der ernsthaft schreibt: »Die Mehrheitsm­einung ist eine der stärksten Kräfte des Universums«, ist nicht einfach ein Rechter, sondern mindestens einer, der als Berichters­tatter 1633 nicht Teil von Galileos Argument geworden wäre und mit der Mehrheitsm­einung die Erde zur Scheibe geplättet hätte.

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