Aufrührerische Osterbotschaft
Jean Ziegler ist überzeugt: Der Kapitalismus vergiftet alle und muss zerstört werden
Berlin. Am Karfreitag wird es hierzulande und in anderen europäischen Ländern keine Schülerdemonstrationen gegen Umweltverschmutzung, Klimaerwärmung und Zerstörung der Biodiversität geben. Aber vielleicht in Ländern der südlichen Hemisphäre, in denen Ostern kein Feiertag, das Christentum nicht staatstragend ist. Sicher werden aber nach den Osterferien in Deutschland wieder Tausende Kinder und Jugendliche auf die Straße gehen, streiken und protestieren. Ihr »Fridays for Future« ist für Jean Ziegler, den bekanntesten Globalisierungskritiker der Gegenwart, ein Hoffnungszeichen, eine Kampfansage an die kannibalische Weltordnung: an den Kapitalismus. »Das kapitalistische System ist extrem giftig, lebensgefährlich für die Natur und für die Menschen«, ist der Schweizer Soziologieprofessor überzeugt.
Im nd-Interview zählt er auf: In zahlreichen Metropolen der Welt lässt sich die Luft kaum noch atmen, weil sie voller Giftstoffe ist; Millionen Arbeiter und Angestellte kommen täglich mit giftigen Materialien in Berührung, die ihre Gesundheit schädigen; Lebensmittel sind mit Pestiziden verseucht; Millionen Menschen werden krank durch verschmutztes Grundwasser und verseuchte Flüsse. Die Liste der Verbrechen der auf Profitmaximierung fixierten kapitalistischen Produktionsweise ist lang.
Ziegler, der an diesem Freitag 85 Jahre alt wird, denkt nicht daran zu schweigen und tatenlos zuzusehen. Er ruft zum Widerstand auf und freut sich über eine wachsende Protestwelle, vor allem über die der jungen Generation, die von der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg initiiert worden ist und beispielhaft sein sollte für die älteren Generationen, die viel zu oft resignieren. Jean Zieglers Osterbotschaft: »Der Kapitalismus muss zerstört werden, bevor er uns und den Planeten zerstört.«
An diesem Freitag, da wir hier in Leipzig gemütlich zusammensitzen, werden wieder weltweit Schüler für die Zukunft des Planeten streiken: Friday for Future.
Das ist wunderbar: Millionen junge Menschen gehen auf die Straße, spontan und selbstbewusst, ohne von Partei- oder Gewerkschaftsführungen aufgefordert zu werden. Sie nehmen ihr Schicksal in die Hand, weil ihre Regierungen die Hände in den Schoß legen, nichts gegen die Verbrechen an Natur und Umwelt tun, unseren Planeten zerstören. Ich freue mich über diese mutigen Kinder, bin stolz auf sie. Wir erleben eine unglaubliche, noch nie dagewesene Protestwelle, ohne politische Lobby und dennoch unverzagt. Etwas ganz Neues ist im Entstehen. Und ich finde es großartig, dass die Initiatorin, das schwedische Mädchen Greta Thunberg, für den Friedensnobelpreis nominiert worden ist.
In Ihrem neuen Buch erklären Sie I hrer Enkelin Zohra den Kapitalismus. Haben Sie sich hierbei vom Nestor der DDR-Wirtschaftswissenschaften Jürgen Kuczynski inspirieren lassen?
Natürlich kenne ich Kuczynskis »Dialog mit dem Urenkel«.
Dessen Thema die Notwendigkeit einer Reformierung des Sozialismus in den 1980er Jahren war.
Mein Thema ist ein anderes. Aber die Methode ist ähnlich. Ich denke, ein Dialog ist effizienter als ein soziologisches Essay. Zudem: Kinder stellen Fragen, die uns Erwachsenen leider zu selten in den Sinn kommen. Sie sehen im Fernsehen die schrecklichen Bilder von Bürgerkrieg und Armut in Jemen und Südsudan, sehen Gleichaltrige, die im Staub liegen wie kleine Tiere und qualvoll sterben. Sie fragen: Wie kann das sein? Wer ist schuld daran?
Und Ihre Antwort lautet?
Schuld daran ist die kannibalische Weltordnung, die der Kapitalismus geschaffen hat. Das kapitalistische System ist extrem giftig, lebensgefährlich für die Natur und für die Menschen. Der Kapitalismus muss zerstört werden, bevor er uns und den Planeten zerstört. Dieses Bewusstsein ist in der heutigen Jugend erwacht. Und sollte beispielhaft sein für die älteren Generationen, die viel zu schnell kapitulieren und resignieren, keine Fantasie und keine Visionen mehr haben, die mörderische Weltordnung als gegeben und alternativlos ansehen. Für die meisten ist es einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus. Aber unsere Kinder wollen diese kannibalische Weltordnung nicht. Sie wollen leben – auf diesem, unserem Planeten. Das wird nicht möglich sein, wenn die Böden weiter austrocknen, die Meeresspiegel ansteigen, die Gletscher und Pole schmelzen, die Biodiversität zugrunde geht.
Wir werden in Europa vermutlich dieses Jahr wieder einen Jahrhundertsommer erleben. Das Klima spielt verrückt?
Nicht das Klima, sondern die Menschen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts, seit der wissenschaftlichen Wetteraufzeichnung, waren die letzten 20 Jahre die wärmsten – verschuldet vom Menschen. Doch nichts passiert, trotz großer Klimakonferenzen. Die Produktion der fünf größten Erdölkonzerne hat sich im letzten Jahr um 18 Prozent gesteigert. Sie hatten sich eigentlich verpflichtet, 30 Prozent ihres Reingewinns für alternative Energien einzusetzen. Was haben sie gemacht in den letzten drei Jahren? Der verrückten Profitmaximierung hofiert. Anstatt 30 Prozent ihrer Gewinne abzuzweigen für Investitionen in Sonnen- und Windenergie usw., haben sie weniger als fünf Prozent investiert. Und die Staaten sind total machtlos. Keine Regierung der Welt traut sich Shell, Texaco, Esso, BP, Total Befehle zu erteilen.
Das betrifft nicht nur die Energiekonzerne. Auch andere Monopole walten und schalten zügellos.
Die 500 größten transkontinentalen Privatkonzerne, alle Sparten zusammengenommen, haben im vergangenen Jahr 52,8 Prozent des Weltbruttosozialprodukts kontrolliert. Sie haben eine Macht, wie sie nie ein König, Kaiser oder Papst besaß. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, nach der Aufhebung der Bipolarität 1991, hat die kapitalistische Produktionsweise wie eine Krake die Welt erobert, sie umspannt und in Würgegriff genommen. Alle wurden von der neoliberalen Wahnidee erfasst, dass die unsichtbaren Kräfte des »freien Marktes« die Geschichte gestalten, nicht die Menschen.
Aber immer mehr Menschen durchschauen die Wahnidee, protestieren gegen Kohleindustrie, Atomkraftwerke und gegen den Konservatismus der Autoindustrie, die Diesel-Mafia ...
Und das ist gut so. In zahlreichen Metropolen der Welt lässt sich die Luft nicht mehr atmen, weil sie sie voller Giftstoffe ist, die Atemwege angreifen und Krebs verursachen, mittlerweile im Süden teils noch stärker als bei uns, etwa in New Delhi. Millionen Menschen werden durch das von Konzernhalunken verunreinigte Grundwasser und verschmutzte Flüsse vergiftet. Millionen Arbeiter und Angestellte kommen tagtäglich mit giftigen Materialien in Berührung, die ihre Gesundheit schädigen.
Lebensmittel sind mit Pestiziden verseucht. Frankreichs Bauern haben allein im vergangenen Jahr auf ihren Nutzflächen 14 000 Tonnen Pestizide versprüht, die wir mit Weintrauben, Kartoffeln und Milch zu uns nehmen. Um ihre Kälber, Hühner und Schweine gegen Infektionen zu schützen und sich selbst vor finanziellem Ruin, stopfen Landwirte die Tiere mit Antibiotika voll, die wir mit Braten und Beefsteaks konsumieren.
Gerade Pestizide und Antibiotika in Nahrungsmitteln sind aber immer wieder Thema von Diskussionen, werden in den Medien angeprangert – und es ändert sich nichts?
Leider. Glyphosat, das meistgenutzte Pestizid, wurde trotz Bürgerprotesten von Monsanto und wird jetzt von Bayer weiter auf den Markt gebracht. Eine Million Menschen in Europa haben vor zwei Jahren eine Petition für den sofortigen Verbot unterschrieben. Doch die Europäische Union hat Vertrieb und Nutzung von Glyphosat für weitere fünf Jahre autorisiert. Weil die Agrochemie es so wollte. Laut OECD nimmt jeder Bewohner eines Industrielandes etwa fünf Liter Pestizide pro Jahr auf. Es gibt viele Beispiele ...
Tropische Wälder werden abgeholzt oder abgebrannt, trotz Widerstands indigener Völker...
Weil die riesigen agroindustriellen Konzerne ständig auf der Suche nach neuen Nutzflächen sind, für ihre Plantagen oder Weiden zur extensiven Rinderhaltung. In Guatemala erstrecken sich auf den fruchtbaren schwarzen Böden an der Pazifikküste Plantagen so weit das Auge reicht – mit Bananen, Tomaten, Melonen, Ananas, Avocados und Kiwis für die Bewohner westlicher Wohlstandsinseln. Eigentümer der Plantagen sind transkontinentale Konzerne wie United Fruit, Del Monte Foods, Unilever, Gerneral Food usw. Die Nachfahren der Mayas sind auf die felsigen Hochplateaus vertrieben, wo sie sich von ein paar mickrigen Stängel Mais und halb verhungerten Schweinen ohne jegliches Bauchspeck ernähren müssen.
Die Abholzung des Regenwaldes schadet Menschen wie Getier.
Im Laufe von 50 Jahren sind 18 Prozent des afrikanischen Waldes, 30 Prozent der ozeanischen und asiatischen Urwälder und 18 Prozent der lateinamerikanischen und karibischen Wälder abgeholzt worden. Die biologische Vielfalt weist einen alarmierenden Rückgang auf, Tag für Tag verschwinden Pflanzen- und Tierarten unwiderruflich, zwischen 1995 bis 2015 sind mehr als 50 000 Spezies ausgelöscht worden.
Dass dies endlich ein Ende finde, ist das Anliegen der freitags global streikenden Kinder und Jugendlichen, über die sich dennoch viel Häme ergießt, von Politikern wie auch anonymen Hetzern im Netz.
Das haben die Kinder nicht verdient. Sie beweisen Vernunft und Verantwortungsgefühl.
Was vielen Regierungen und Staatenlenker abhold ist. Diese müssten aber doch – wenn schon nicht aus Einsicht – zumindest aus ureigenem Interesse, wiedergewählt zu werden, Bürgerproteste erhören?
Ich habe schon auf die Allmacht der Konzerne verwiesen, die auf finanzieller Kraft beruht. Die Bilanzaktiva der Erdölgesellschaft Exxon Mobile sind größer als das Bruttoinlandsprodukt Österreichs, und die Aktiva von General Motors übertreffen das Bruttoinlandsprodukt von Dänemark ...
Und um ein Mehrfaches mehrerer afrikanischer Staaten zusammen. Mit dem Neoliberalismus feiert auf dem afrikanischen Kontinent auch der Neokolonialismus fröhliche Urständ.
So ist es. In Kivum beispielsweise, einer idyllischen Region am Fuße eines Vulkangebirges im Osten des Kongo, wird in von schwer bewaffneter Miliz bewachten Bergwerken Coltan abgebaut, das unter anderen für Flugzeugrümpfe und das Innenleben unserer Handys gebraucht wird. 80 Prozent der weltweiten Vorkommen dieses Erzes lagern in Kivu. Die Erzadern sind schwer zugänglich, befinden sich zehn bis zwanzig Meter unter der Erde. Die Schächte sind meist so eng, dass in ihnen nur schmächtige Kinder an Seilen heruntergelassen werden können. Es besteht die latente Gefahr von Bergrutschen. Kinder werden bei lebendigem Leib begraben, ersticken elendig. Die kongolesische Staatsmacht gibt es in Kivu nicht, es ist ein El Dorado für raffgierige westliche Minenunternehmer.
US-Präsident Barack Obma erließ am Ende seiner zweiten Amtszeit zwar ein Gesetz, das den Handel mit unter unmenschlichen Bedingungen gewonnen Erzen und Metallen, die Conflict-Minerals, für den US-amerikanischen Markt verbot. Die mächtigen Bergbaugiganten haben sein Gesetz jedoch unterlaufen. Glencore, die mächtigste Unternehmensgruppe, hat ihre Holding in die Schweiz eintragen lassen. Donald Trump hat dann, kaum ins Weiße Haus gelangt, das Gesetz ersatzlos gestrichen.
Monopole interessieren sich nicht für Menschenrechte, schon gar nicht für die Wahrung dieser im globalen Süden.
So ist es. 2018 betrug der gesetzliche Mindestlohn in Bangladesch, ein Tummelplatz für westliche Konzerne, die billig und ohne Rücksicht auf Arbeitszeiten und Arbeitssicherheit produzieren wollen, 51 Euro im Monat. Laut dem Gewerkschaftsverbund Asia Floor Wage Alliance ist jedoch ein Monatslohn von 272 Euro erforderlich, um eine vierköpfige Familie am Leben zu erhalten.
Die Menschen des globalen Süden wehren sich jetzt. Angehörige der 250 Menschen, die beim Brand in einer Fabrik in Karatschi grauenvoll starben, klagen gegen den verantwortlichen deutschen Textildiscounter, KiK, in Dortmund.
Ja, da ist etwas im Gange.
Und einige afrikanische Staaten zeigen ein größeres ökologisches Bewusstsein als der Westen. Kenia beispielsweise hat die Herstellung und Einfuhr von Plastiktüten verboten; wer eine solche bei sich trägt, kann mit bis zu 32 000 Euro bestraft werden.
Daran sollten sich die westlichen Staaten ein Beispiel nehmen.
Sie sprachen eingangs davon, dass die kannibalische Weltordnung zerstört werden müsse. Das heißt, Sie glauben – im Gegensatz zu vielen Linken – nicht daran, dass man den Kapitalismus zähmen, zügeln, eindämmen kann? Es gibt keinen aufgeklärten Kapitalismus?
Nein, den gibt es nicht. Der Kapitalismus muss und wird verschwinden – wie zuvor die Sklavenhaltergesellschaft und der Feudalismus. Beide autokratischen, auf die Ausbeutung von Menschen basierenden Gesellschaftsordnungen konnte man nicht reformieren, sie wurden abgeschafft oder gestürzt.
Die Französische Revolution machte mit dem Ancién Regime tabula rasa ...
Sie verkündete die Menschenrechte, die Volkssouveränität, die Republik.
Ebnete allerdings dem globalen Kapitalismus den Weg.
Und er wird dasselbe Schicksal erleiden, wie der Absolutismus. Er wird ersatzlos zerstört, aus seinen Ruinen entsteht die neue Welt. Wie die aussehen wird, ist das Mysterium der befreiten Menschheit. Die Aufständischen vom 14. Juli 1789 ahnten auch nicht, was aus ihrem Tun erwächst.
Wann ist es soweit, wann wird der Kapitalismus Geschichte sein?
Das weiß niemand. Aber es wird geschehen. Weil es immer wieder geschieht. Ungeachtet aller Rückschläge. Karl Marx sprach vom Maulwurf der Geschichte. Es gibt viele Bewegungen, soziale, antikapitalistische, ökologische, große und kleine, lokale und internationale, es gibt Ostermärsche und Hungermärsche. Tagtägliche Wühlarbeit, gleich einer geheimnisvollen Bruderschaft, ist nötig. Millionen Menschen wagen es bereits. Und es werden immer mehr. Das Handeln jedes Einzelnen zählt, auch der Kinder von Friday for Future. Ich bin optimistisch und schleudere hoffnungsfroh der globalen verbrecherischen Kapitalistenbande die Worte des chilenischen Dichters Pablo Neruda entgegen: »Sie können alle Blumen abschneiden, aber nie werden sie den Frühling bezwingen.«
»Das kapitalistische System ist extrem giftig, lebensgefährlich für die Natur und für die Menschen.
Der Kapitalismus muss zerstört werden, bevor er uns und den Planeten zerstört. Dieses Bewusstsein ist in der heutigen Jugend erwacht. Und sollte beispielhaft sein für die älteren Generationen.«