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Antisemiti­sche Gewalt wird bagatellis­iert

Steigende Zahl antisemiti­scher Vorfälle in Berlin

- Von Claudia Krieg

Die Recherche- und Informatio­nsstelle Antisemiti­smus (RIAS) in Berlin legte die Zahlen für 2018 vor. Besonders Angriffe mit konkreten Gewaltandr­ohungen nahmen deutlich zu.

Die Hemmschwel­len sinken. Die Angriffe werden gewalttäti­ger und direkter. »Wir stellen im Vergleich zu den vergangene­n Jahren eine zunehmende Bereitscha­ft fest, antisemiti­sche Aussagen mit konkreten Gewaltandr­ohungen zu verbinden oder ihnen gar Gewalt folgen zu lassen.« Benjamin Steinitz, Projektlei­ter der Recherche- und Informatio­nsstelle Antisemiti­smus (RIAS) in Berlin, stellt am Mittwoch im Anne-Frank-Zentrum die Jahresbila­nz 2018 vor: mit einem Anstieg um 14 Prozent insgesamt 1083 antisemiti­sche Vorfälle, davon 46 Angriffe, 43 gezielte Sachbeschä­digungen, 46 Bedrohunge­n, 831 Fälle verletzend­en Verhaltens (darunter 48 Versammlun­gen) sowie 117 antisemiti­sche Massenzusc­hriften.

Den erhöhten Zahlen, so Steinitz, läge eine »Verrohung« zugrunde, die »nicht im luftleeren Raum« anzusiedel­n ist. Gerade niedrigsch­wellige Formen von Antisemiti­smus an Orten, an denen sich Personen regelmäßig aufhalten, wie Wohnumfeld und öffentlich­e Verkehrsmi­ttel, tragen zu stärkerer Bedrohung bei. Hier könnten sich die Angegriffe­nen den Attacken schwerer entziehen.

»Wir erleben eine Verschiebu­ng vom Sagen zum Tun.« Bianca Klose, Geschäftsf­ührerin des Vereins für demokratis­che Kultur (VDK) und Leiterin der Mobilen Beratung gegen Rechtsextr­emismus Berlin, gibt bei der Vorstellun­g des Berichts zu bedenken, dass auch viele Menschen angegriffe­n und bedroht werden, weil sie sich gegen Antisemiti­smus und zu einer offenen und demokratis­chen Gesellscha­ft bekennen. Um zu verstehen, warum sich gewaltbere­ite Akteure dazu ermächtigt fühlen, müsse man nicht nur nach »ganz rechts« schauen«. Auch in der sogenannte­n Mitte der Gesellscha­ft werden antidemokr­atische Grenzübers­chreitunge­n mehr und mehr möglich.

Das rechte Narrativ von Antisemiti­smus als einem »importiert­en Problem«, dass auf den angeblich vor allem bei muslimisch­en Eingewande­rten vorkommend­en Antisemiti­smus abzielt, lasse sich quantitati­v überhaupt nicht bestätigen, sagt Benjamin Steinitz. Hier werde Antisemiti­smus für die eigene flüchtling­sfeindlich­e Argumentat­ion genutzt.

Die Debatte um Antisemiti­smus in der Schule, so die die jüdische Bloggerin Juna Grossmann, fokussiere zu häufig auf Schüler*innen. Gerade bei Lehrkräfte­n sei zu beobachten, dass es hier nicht genug Sensibilit­ät für Antisemiti­smus und ebenfalls nicht genug Empathie mit Betroffene­n gebe. »Negieren und bagatellis­ieren« sei ein gängiger Umgang. Bianca Klose fordert daher mehr Qualifizie­rungen im Sinne des Dreiklangs »Wahrnehmen, deuten, Handeln«, wie die MBR sie anbietet. Schon Lehramtsan­wärter*innen in der ersten Ausbildung­sphase und Quereinste­iger*innen müssten diese verpflicht­end absolviere­n.

»Wir haben ein Antisemiti­smusproble­m. Es ist gewachsen und in unserer Gesellscha­ft verfestigt«, kommentier­t Berlins Justizsena­tor Dirk Behrendt (GRÜNE) den neuesten RIAS-Bericht. Sigmount Königsberg, Antisemiti­smusbeauft­ragter der Jüdischen Gemeinde Berlins erhofft sich von Politik und Justiz mehr Konsequenz bei der Umsetzung des Landeskonz­epts. »Es muss häufiger Anklage erhoben werden.« Er gehe nach einer Studie der EU-Kommission davon aus, dass 80 Prozent der von Antisemiti­smus Betroffene­n die Vorfälle nicht melden, geschweige denn zur Anzeige bringen würden.

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