Wohnung statt Straße
19 Obdachlose haben über das Projekt Housing First einen Mietvertrag erhalten
Seit gut einem halben Jahr gibt es das Modellprojekt Housing First, das Wohnungslose in eine eigene Wohnung vermittelt. Trotz des angespannten Wohnungsmarktes zeigen sich bereits erste Erfolge.
»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass keiner mehr über mein Leben bestimmt«, sagt Kassandra. Fünf Jahre lang war die 29-Jährige wohnungslos, zwei Jahre davon lebte sie in einer betreuten Wohngemeinschaft. Nachdem sie dort rausgeschmissen wurde, war sie anderthalb Jahre in einem Hotelzimmer ohne Kochmöglichkeit untergebracht. Zuletzt schlief sie in einer Notübernachtung für Frauen, bevor sie sich dann im Januar an Housing First wandte. »Das hat alles reibungslos und superschnell funktioniert«, freut sich Kassandra. Seit März lebt sie nun in ihrer eigenen Wohnung, arbeitet ehrenamtlich in einer Kita und will eine Therapie anfangen, um das Ganze zu verarbeiten.
Kassandra ist eine von 19 Wohnungslosen, die über Housing First eine eigene Wohnung gefunden haben. »Housing First ist in Berlin gut angelaufen, ich bin guter Dinge, dass das der richtige Ansatz ist«, sagt Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE) am Mittwoch bei der Vorstellung einer ersten Bilanz des Modellprojekts. Seit Oktober 2018 können auf der Straße lebende Menschen darüber ohne Vorbedingung eine Wohnung sowie sozialpädagogische Unterstützung und Beratung erhalten. »Dadurch haben die Menschen Zeit, erst einmal Luft zu holen und sich zu besinnen, ob sie ihr Leben ändern wollen, und wenn ja, wie«, so Breitenbach. Ob die Betroffenen die Hilfsangebote dann auch wahrnehmen, bleibt ihnen selbst überlassen.
Doch nicht alle der geschätzt mehreren Zehntausend Wohnungslosen in Berlin können bei Housing First mitmachen. »Der Bedarf ist um ein Vielfaches höher, als das Projekt abdecken kann«, so Breitenbach. Bis zu 80 Menschen sollen über einen Zeitraum von drei Jahren mit einer Wohnung versorgt werden. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Miete gesichert ist, die Betroffenen müssen diese also entweder selbst zahlen können oder Anspruch auf Transferleistungen haben – viele der Obdachlosen etwa aus Osteuropa haben dies nicht.
Auch die beiden Trägervereine des Projekts haben ihre eigenen Regeln. So dürfen beim Sozialdienst katholischer Frauen nur alleinstehende Frauen ohne Kinder teilnehmen. »Bei Frauen ist vor allem die verdeckte Obdachlosigkeit ein Problem, man sieht sie nicht auf der Straße, aber sie sind da«, erklärt Stefanie Albig. Viele von ihnen hätten Gewalterfahrungen, seien traumatisiert und hätten psychische Probleme. »Da geht es erst mal viel um Stabilisierung und den Aufbau von Zuversicht«, so Albig.
Die Berliner Stadtmission und Neue Chance gGmbH vermittelt hingegen alle Menschen, die bereits seit Längerem wohnungslos sind. Dafür arbeite man seit Neuestem mit Straßensozialarbeiter*innen zusammen, so Projektleiterin Corinna Münchow. Sozialbetreuer*innen würden zudem praktische Hilfe bei alltäglichen Herausforderungen wie Einkaufen, Reparaturen oder Amtsbesuche leisten.
Die Erfahrung der beiden Träger fallen dementsprechend unterschiedlich aus: »Das läuft viel besser, als wir uns hätten erträumen können«, sagt der Koordinator für Wohnraum bei der Berliner Stadtmission/Neue Chance, Sebastian Böwe. Inzwischen arbeite man mit allen großen Wohnungsunternehmen zusammen, sowohl mit privaten als auch mit städtischen. »Mittlerweile rufen uns Hausverwaltungen an und bieten uns Wohnungen an«, freut sich Böwe.
Beim Sozialdienst katholischer Frauen fällt die Bilanz hingegen verhaltener aus: Zwar habe man ebenfalls alle großen Wohnungsunternehmen angeschrieben, vor allem von städtischen Vermietern habe es jedoch viele Absagen gegeben, erzählt Beate Vetter-Gorowicz. Die größten Probleme machen den beiden Trägerverbänden jedoch die Jobcenter: Mitunter dauere es viel zu lange, bis diese die Mietkaution oder die Miete überweisen würden.
Doch nicht nur Sozialhilfeempfänger*innen melden sich bei Housing First, es gibt auch Klient*innen, die trotz Job keine Wohnung finden. So wie Kassandra, die während ihrer Wohnungslosigkeit teilweise Vollzeit gearbeitet hat. Das muss sich ändern, meint Sozialsenatorin Breitenbach: »Entweder wir müssen den Mindestlohn so erhöhen, dass sich die Menschen ihre Miete leisten können, oder wir müssen etwas mit den Mieten machen.«