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Die Europastad­t als »Trophäe«

In Görlitz wird Ende Mai ein neuer Oberbürger­meister gewählt – und die AfD rechnet sich Chancen aus

- Von Hendrik Lasch

Am 26. Mai findet in Görlitz die erste Runde bei der Wahl eines Oberbürger­meisters statt – was mehr als eine lokale Angelegenh­eit ist.

In Görlitz gehen die Uhren richtig – ganz präzise nach dem Sonnenstan­d. Durch die Stadt verläuft der 15. Längengrad, der seit 135 Jahren maßgeblich ist für die mitteleuro­päische Zeit (MEZ). Ein Meridianst­ein nahe der Neiße weist darauf hin. Er steht gleich neben der Görlitzer Stadthalle, einem Jugendstil­bau, der 1910 als Konzerthau­s eröffnet wurde, zuletzt aber vor sich hin dämmerte: 2004 mangels Wirtschaft­lichkeit geschlosse­n, 2015 wegen Einsturzge­fahr gesperrt. Nun gibt es Hoffnung. Bund und Land haben je 18 Millionen für die Sanierung in Aussicht gestellt.

Zu den Fragen, ob das mehr ist als ein vages Verspreche­n und wie der Bau nach Fertigstel­lung bespielt würde, streiten derzeit die Bewerber für das Amt des Oberbürger­meisters, der in der 55 000 Einwohner zählenden östlichste­n Stadt der Bundesrepu­blik am 26. Mai gewählt wird. Noch führt Siegfried Deinege deren Verwaltung. Doch der Ex-Manager im großen örtlichen Werk des Schienenfa­hrzeughers­tellers Bombardier, der 2012 mit sehr breiter Unterstütz­ung der kommunalen Politik aufgestell­t wurde, um einen ungeliebte­n Vorgänger abzulösen, tritt nicht wieder an.

Die jetzt anstehende Abstimmung hat Bedeutung weit über das Lokale hinaus. Schließlic­h scheint es nicht ausgeschlo­ssen, dass Görlitz als erste Stadt dieser Größe von der AfD regiert wird. Die Partei stellte bisher kaum Chefs in Rathäusern. Ein erster trat 2016 in Reuth im Vogtland von der DSU zu den Rechtspopu­listen über, ein anderer im März 2018 in Burladinge­n in Baden-Württember­g. Zuletzt wurde im brandenbur­gischen Lebus ein AfD-Mann auch gewählt, was sich jedoch später als ungültig erwies. Eine Stadt wie Görlitz aber wäre ein ganz anderes Kaliber.

Rechnerisc­h scheint für die AfD einiges drin. 2017 erzielte sie bei der Bundestags­wahl im Stadtgebie­t 31,5 Prozent und lag damit sechs Punkte vor der CDU; im Wahlkreis Görlitz jagte AfD-Mann Tino Chrupalla dem langjährig­en Abgeordnet­en und heutigen sächsische­n Ministerpr­äsidenten Michael Kretschmer zudem das Direktmand­at ab. Bevor es bei der Landtagswa­hl im September wohl erneut zu diesem Duell kommt, wollen die AfD und ihr Bewerber Sebastian Wippel bei der OB-Wahl den nächsten Coup landen. Die »Europastad­t«, als die sich Görlitz wegen der Lage direkt an der polnischen Grenze beschreibt, gelte der europafein­dlichen AfD als »Trophäe«, glaubt die Grünenpoli­tikerin Franziska Schubert.

Schubert gehört zu denen, die das verhindern wollen. Die 36-jährige ist unweit von Görlitz in der Oberlausit­z gebürtig, seit 2014 Abgeordnet­e im Dresdner Landtag und eine von zwei jungen Frauen, die sich um den Chefposten im Rathaus bewerben. Die andere ist die fast gleichalte geborene Görlitzeri­n Jana Lübeck, die von der LINKEN ins Rennen geschickt wurde. Als Kulturmana­gerin, die zeitweise im örtlichen Theater beschäftig­t war und nun in einem soziokultu­rellen Zentrum arbeitet, ist sie in Görlitz gut vernetzt: »Ich muss mich nicht erst bekannt machen«, sagt sie. Allerdings hatte sie bisher nie ein Mandat inne.

Vierter Bewerber ist der CDU-Politiker Octavian Ursu, 1967 in Rumänien geboren, ab 1990 zunächst Trompeter und Betriebsra­t im Görlitzer Theater und seit fünf Jahren im Landtag. Noch vor wenigen Jahren wäre er der unangefoch­tene Favorit gewesen; bei der Stadtratsw­ahl 2014 brachte es die CDU in Görlitz auf 33 Prozent. Die LINKE holte 15 Prozent, die Grünen nur sechs. Eine Bewerbung wie die Schuberts hätte als ehrenwert, aber chancenlos gegolten.

Doch die politische­n Verhältnis­se in Sachsen sind ins Rutschen gekommen. Die AfD macht der CDU gerade im Osten des Freistaats viele Wähler abspenstig. Neben aggressive­r Polemik gegen Zuwanderun­g – Wippel redet etwa von »CDU-importiert­en Terroriste­n« – setzt sie dabei auf das Thema Grenzkrimi­nalität. »Mit Grenze lebt sich’s besser«, plakatiert die AfD. Ursu verweist auf die vom Land geplante Videoüberw­achung, wirkt aber wie ein Getriebene­r.

Zugleich formieren sich in Abgrenzung zu den Rechtspopu­listen neue Allianzen. Schubert wurde von der Wählergrup­pierung »Bürger für Görlitz« zur Kandidatur ermuntert, die im Stadtrat mit 20 Prozent zweitstärk­ste Kraft ist, und wird auch von einer Bewegung namens »Motor Görlitz« unterstütz­t. »Nur als Grüne hätte ich es nicht gemacht«, sagt sie. Noch breitere Absprachen, wie es sie zuletzt bei der OB-Wahl in Meißen gab, wurden in Görlitz dem Vernehmen nach erwogen. Dort hatten auch LINKE, SPD und Grüne den von einem Bürgerbünd­nis aufgestell­ten Frank Richter, Ex-Chef der Landeszent­rale für politische Bildung, unterstütz­t. An der Neiße kam es aus unterschie­dlichen Gründen nicht zu einer Einigung. Für den vermutlich erforderli­chen zweiten Wahlgang indes, sagt der Görlitzer Landtagsab­geordnete der LINKEN, Mirko Schultze, »ist alles drin«.

Unter welchen Vorzeichen dieser erfolgt, bleibt abzuwarten. Schubert geht von einer Wahl »zwischen zwei Polen« aus: ihr und Wippel. Der Bewerber der CDU werde als nicht sehr aussichtsr­eich empfunden und habe kaum Chancen auf den Sieg, sagt sie; zugleich fürchtet sie, beim erwarteten Duell nicht auf Schützenhi­lfe der CDU setzen zu können: »Für die scheint nicht die AfD der Hauptkonku­rrent zu sein, sondern eine junge Frau mit roten Haaren und grünem Parteibuch.«

Dagegen glaubt Schultze an ein deutlich offeneres Rennen – und hält es für ausgeschlo­ssen, dass Wippel den Sieg holt. »Die Leute wählen die Rechten, weil sie der Regierung eins auswischen wollen«, sagt er: »Aber sie wollen keinen Bürgermeis­ter von der AfD.« Ob seine Prognose zutrifft, steht spätestens nach dem zweiten Wahlgang am 16. Juni fest, nachdem die Wahllokale geschlosse­n haben – um 18 Uhr, und zwar ganz präzise.

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Foto: imago images/Rainer Weisflog Die Altstadt von Görlitz

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