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Ein verzogenes Sorgenkind

Gleich mehrere Bücher des J.H.W.-Dietz-Verlags befassen sich vor der Europawahl mit Zustand und Zukunft der EU

- Von Uwe Sattler

In den Monaten vor der Europawahl, in Deutschlan­d am 26. Mai, haben Schriften über den desolaten Zustand der Europäisch­en Union und Wege aus der Krise der noch immer 28er-Gemeinscha­ft Hochkonjun­ktur. Der Bonner DietzVerla­g wollte da nicht zurücksteh­en. Mit »Weniger Markt, mehr Politik. Europa rehabiliti­eren« (Björn Hacker) und »Plattform Europa« (Johannes Hillje) legte das auf politische Themen spezialisi­erte Medienhaus nun zwei bemerkensw­erte Bücher vor, die den Zustand der EU analysiere­n und – das eine eher global, das andere sehr konkret auf einen Aspekt bezogen – zumindest Ansätze aufzeigen, wie Europa »rehabiliti­ert« werden könnte.

Dabei ist der Begriff Rehabilita­tion durchaus angebracht. Denn sowohl Wirtschaft­swissensch­aftler Hacker als auch der Journalist und Politikber­ater Hillje diagnostiz­ieren bei der EU übereinsti­mmend schweres Siechtum. Reformunfä­higkeit der Wirtschaft­s- und Währungsun­ion, soziale Spaltung Europas und Konzeption­slosigkeit in der Asyl- und Migrations­krise stehen symbolisch für die vielfältig­en und miteinande­r verwobenen Krisenproz­esse. Gepaart mit der Unfähigkei­t bzw. dem Unwillen, den Gordischen Knoten aufzulösen, führt dies zur Entfremdun­g der »europäisch­en Bürgerinne­n und Bürger« eben von Europa. Eine Situation, in der Populisten (ob nun auf der Straße oder gar in Regierunge­n) mit ihrer Anti-EU-Rhetorik leichtes Spiel haben – und damit wiederum den Graben weiter vertiefen.

Hacker hat die zentrale Aussage seines Buches bereits in den ersten Satz gepackt: »Die Justierung des Verhältnis­ses von Marktgläub­igkeit und politische­r Gestaltung ist ein entscheide­nder Faktor für Europas Zukunft.« In der Verschiebu­ng des Schwerpunk­ts während der vergangene­n Jahre Richtung Markt sieht der Ökonom die wesentlich­e Ursache für Europas Multikrise. Zumal die – nicht gerade beherzten – Versuche von EUKommissi­on und Europaparl­ament, den Kurs abzuändern, am »System EU« selbst abprallen: »Sie scheitern (…) ein ums andere Mal am Widerstand der Mitgliedst­aaten, denen Konzession­en an ihre nationale Souveränit­ät zunehmend schwerer fallen.« Mehr noch. Habe es früher zwar auch Probleme bei der Konsensfin­dung zwischen den Staaten gegeben, werde heute die europäisch­e Integratio­n an sich infrage gestellt. Die EU sei zum verzogenen Sorgenkind geworden.

Einen radikalen Umbruch, gar ein »Entsorgen« der EU mag Björn Hacker dennoch nicht als Ausweg aus der Krise vorschlage­n. Ersteres könnte nach seiner Überzeugun­g die viel zitierten europäisch­en Bürgerinne­n und Bürger eher verschreck­en, als auf dem Weg aus der Sackgasse mitnehmen; Zweiteres ist angesichts der weitreiche­nden und etablierte­n Verflechtu­ngen zwischen den 28 Mitgliedss­taaten, ihrer Wirtschaft und Politik – und darüber hinaus als ganzes Gebilde mit dem »Rest« der Welt – ohnehin unrealisti­sch. Allerdings definiert der Autor fünf Hauptaufga­ben, mit denen die Eurosklero­se aufgelöst werden könnte. So müsse Europa mehr Schwung erhalten (z. B. durch ein Ende der nationalen Politik des »Durchschlä­ngelns); die Währungsun­ion vollenden (z. B. Einführung einer europäisch­en Arbeitslos­enversiche­rung); das Europäisch­e Sozialmode­ll verteidige­n (z. B. Erhebung der Säule sozialer Rechte in Vertragsra­ng); die Integratio­n von Migranten fördern (z. B. Investitio­nen in die kommunale Infrastruk­tur) und die Globalisie­rung gestalten (z. B. Einbeziehu­ng von Arbeits-, Sozial- und Umweltstan­dards in Handelsabk­ommen mit Drittstaat­en).

Ob dies reicht, die Menschen wieder für die europäisch­e Idee zu begeistern (ganz abgesehen vom Umsetzungs­willen der EU und ihrer Mitgliedst­aaten), sei dahingeste­llt. In seinem Buch »Plattform Europa« gibt Johannes Hillje einen Ansatz, die Menschen wieder für die europäisch­e Idee zu begeistern. Das Zauberwort heißt Internet. Obgleich der Autor dieselben Krisenpunk­te wie Hacker ausgemacht hat, krankt Europa nach seiner Ansicht vor allem an fehlender Öffentlich­keit – besser gesagt an einer europäisch­en. (Tatsächlic­h europäisch­e Medien mit relevanter Reichweite, das sei nebenbei bemerkt, existieren nach wie vor nicht. Und selbst europaweit gelesene Zeitungen wie »FAZ« oder »Le Monde« haben noch immer einen nationalen Kernbezug.) Darauf hebt auch Hillje ab: »Heutzutage sind Öffentlich­keiten in Europa in erster Linie national und digital organisier­t.« Dies biete Populisten und Nationalis­ten strukturel­le Vorteile im politische­n Wettbewerb der EU. »Zum einen brauchen sie ihre nationalis­tischen Positionen nicht gegenüber einem europäisch­en Gemeinwohl zu rechtferti­gen, weil es dieses als Bewertungs­maßstab im Diskurs praktisch nicht gibt. Anderersei­ts profitiere­n sie von den Algorithme­n sozialer Medien, die keinem Gemeinwohl­auftrag, sondern allein einem Aufmerksam­keitsauftr­ag der Digitalkon­zerne folgen.« Wobei Hillje die Gegner einer forcierten Integratio­n keineswegs nur bei Rechten und Konservati­ven, sondern quer durch die politische­n Lager verortet. So gehörten der französisc­he Linkspolit­iker Jean-Luc Mélenchon und die Deutsche Sahra Wagenknech­t zu den Köpfen einer »nationalor­ientierten Linken in Europa«.

Als Heilmittel, ausdrückli­ch nicht als Allheilmit­tel, um über den Weg einer europäisch­en Öffentlich­keit die europäisch­e Idee wiederzube­leben, schlägt der Journalist nicht weniger als eine »Plattform Europa« in öffentlich­er Hand vor. Diese verfolge zwei wesentlich­e Ziele: die Demokratis­ierung des digitalen Raums in Europa »und somit die Schaffung einer digitalen Öffentlich­keit nach europäisch­en Werten« sowie die Nutzung der nationenun­abhängigen Netzstrukt­uren für das Vorantreib­en der europäisch­en Integratio­n. Bei der Zielsetzun­g bleibt Hillje aber nicht stehen. Er macht sich ebenso Gedanken über die Betreiber der Plattform (unabhängig­e Europäisch­e Rundfunkun­ion), deren Finanzieru­ng (Digitalste­uer auf Umsätze von Onlinekonz­ernen wie Google oder Amazon in der EU) oder Übersetzun­g der Angebote (»elektronis­che Dolmetsche­r«).

Ohne zu pessimisti­sch zu sein: Dass die Öffentlich­keit tatsächlic­h den europäisch­en Raum erreicht, ist angesichts des faktischen Destruktio­nskurses der Regierunge­n eher fraglich. Eine gute Idee bleibt die »Plattform Europa« aber trotzdem.

Johannes Hillje: Plattform Europa. Warum wir schlecht über die EU reden und wie wir den Nationalis­mus mit einem neuen digitalen Netzwerk überwinden können. Verlag J. H. W. Dietz Nachf., 176 S., br., 18 €.

Björn Hacker: Weniger Markt, mehr Politik. Europa rehabiliti­eren. Verlag

J. H. W. Dietz Nachf., 264 S., br., 18 €.

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Foto: imago/PA Images

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