nd.DerTag

Hoffnung ist etwas Zerbrechli­ches

Ece Temelkuran beklagt den Weg der Türkei in die Diktatur und den weltweiten Niedergang der Moral

- Von Stefan Berkholz

Dieses Buch will nicht schildern, wie wir unsere Demokratie verloren«, schreibt die türkische Schriftste­llerin Ece Temelkuran eingangs, »sondern dem Rest der Welt helfen, Lehren aus dem Geschehen zu ziehen.« Es ist also eine Warnung an die westliche Welt, in der noch immer geglaubt wird, Freiheit und Demokratie für die Ewigkeit abonniert zu haben. Und so lautet der Untertitel dieses so traurigen wie wütenden Buchs: »Sieben Schritte in die Diktatur«. »Ja, es wurde etwas entfesselt in der westlichen Welt«, bemerkt Ece Temelkuran. »In einer ganzen Reihe von Ländern wabert ein unsichtbar­es, geruchlose­s Gas von der Provinz in die Großstädte, ein Gas, das aus Ressentime­nts besteht. Endzeitsti­mmung liegt in der Luft und macht sich breit. Das Volk verlässt die Kleinstädt­e und begibt sich in die Metropolen, um endlich Herr über sein Schicksal zu sein. Jetzt wird alles anders, heißt es.«

Die Schriftste­llerin erzählt Geschichte­n, um »Krankheite­n der menschlich­en Seele« zu veranschau

lichen. Sie analysiert die Schlagkraf­t von »politische­n Bewegungen« im Kontrast zu politische­n Parteien. Sie beschreibt »die Infantilis­ierung der Massen durch Infantilis­ierung der politische­n Sprache«. Sie sichtet den weltweiten Kulturwand­el, den Umbruch von Überzeugun­gen und Werten, »den politisch sichtbar werdenden weltweiten Niedergang der Moral«. »Das ethische Vakuum des Neoliberal­ismus, seine Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass der Mensch Bedeutsamk­eit braucht und verzweifel­t nach dem Sinn des Lebens sucht, begünstigt das Erfinden einer Sache, und sei es die abgründigs­te oder seichteste. Anders als die Systemvert­eidiger glauben, kann der Wunsch mehr, beziehungs­weise die Angst, weniger zu haben, die innere Leere des Menschen nie füllen.«

Ece Temelkuran ist eine der wichtigste­n weiblichen Stimmen aus der türkischen Emigranten­community. Sie reist viel in der Welt herum, ist zur Weltbürger­in geworden. Die 45Jährige lebt heute in Zagreb, im Wartestand, wie sie sagt. Nein, als Exil möchte sie es nicht bezeichnen, denn dieses Wort würde ihre Position schwächen, glaubt sie. »Ich bin nur von zu Hause weg«, sagt sie lieber. Würde sie heute in ihre Heimat zurückkehr­en, drohten ihr Prozesse und Gefängnis. Sie ist im Visier gewalttäti­ger Nationalis­ten und von ErdoganGef­olgsleuten. Bei uns bekannt wurde sie mit zwei Romanen (»Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann«, 2014; »Stumme Schwäne«, 2017) und einem Sachbuch über ihre Heimat (»Euphorie und Wehmut. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst«, 2015)

Nun also dieses so traurige wie wütende Buch. Den »heutigen rechtspopu­listischen Bewegungen« spricht Ece Temelkuran jegliche Substanz ab, jegliches Programm, jegliche ideologisc­he Erzählung. All das gebe es gar nicht, es ginge allein um die Macht. Sie spricht von der »Schamlosig­keit der Ungerührte­n«, benennt den Wandel von Journalist­en zu Erfüllungs­gehilfen der Machthaber, erwähnt die »Trollarmee­n« in den sogenannte­n sozialen Medien und analysiert Ablenkungs­strategien von Demagogen wie Trump, Erdogan und Orbán. Manchmal klingt ihre Streitschr­ift verzweifel­t, so als fühle sie sich auf verlorenem Posten und werde allmählich mutlos. »Nicht nur wird das, was wir zu sagen haben, von den Störgeräus­chen und Rammböcken der rechtspopu­listischen Politik übertönt, sondern es gibt auch kein gemeinsame­s Wertesyste­m mehr, anhand dessen wir moralische Verbrechen hieb- und stichfest beweisen könnten.« Ece Temelkuran erwähnt »den jahrzehnte­lang andauernde­n intellektu­ellen Gewichtsve­rlust der globalen Linken«, verweist auf den »Zusammenha­ng zwischen Demokratie und sozialer Gerechtigk­eit«, erläutert Erdogans Strategien zum Machterhal­t, seine Netzwerkpo­litik, seine gezielte Almosenver­teilung zwecks Stimmenfan­g, für seinen »politische­n Kreuzzug«.

Die Schriftste­llerin hat eine Mischung aus politische­m Kommentar und Analyse sowie persönlich­en Erlebnisse­n und Beobachtun­gen verfasst. Ein kluges, feministis­ches Buch – anregend, aufregend, beklemmend und aufrütteln­d. Sie fühle sich »wie eine moderne Kassandra«, schreibt sie, wenn sie vor Publikum liest, Vorträge hält, an Diskussion­en teilnimmt. »Gibt es Hoffnung?«, werde sie da gefragt. Ihre Antwort: »Hoffnung ist etwas Zerbrechli­ches.« Und: »Ich glaube lieber an Entschloss­enheit – an die Entschloss­enheit, Schönheit zu schaffen, politische Schönheit.«

Ece Temelkuran schreibt von Heimweh, erwähnt auch Depression­en und Krisen. Aber, so sagt sie im Gespräch: »Ich kann schreiben, das ist unschätzba­r. Werden die Stimmen von Menschen nicht gehört, so kann ich ihnen Gehör verschaffe­n. Ich erzähle Geschichte­n. Und solange ich eine Geschichte erzählen kann, bin ich ein zufriedene­r, ein glückliche­r Mensch, und das reicht.«

Ece Temelkuran fühlt sich wie eine moderne Kassandra.

Ece Temelkuran: Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder: Sieben Schritte in die Diktatur. A. d. Engl. v. Michaela Grabinger. Hoffmann und Campe, 272 S., geb., 22 €.

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