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Ralf Klingsieck Notre-Dame ist »nationales Anliegen« der Franzosen Bahareh Ebrahimi Erst seine Macken vervollkom­mnen ein Bauwerk

Notre-Dame wieder aufzubauen, ist das Anliegen nahezu aller Franzosen.

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Den Brand der Pariser Kathedrale Notre-Dame am vergangene­n Montag empfinden die meisten Franzosen als »nationales Drama«. So charakteri­sierte Präsident Emmanuel Macron das Ereignis in einer Fernsehans­prache am Dienstag und begründete damit, warum er seine geplante Rede und eine Pressekonf­erenz zu den Schlussfol­gerungen aus der Nationalen Debatte zu den Gelben Westen bis auf Weiteres aufschob. Ähnlich sehen es auch die Opposition­spolitiker, die aus diesem Anlass in seltener Übereinsti­mmung ihren Europa-Wahlkampf für einige Tage aussetzten.

Der Präsident, der ganz offensicht­lich die Erschütter­ung über die Brandkatas­trophe und den Elan für den Wiederaufb­au nutzen will, um zu betonen, was die Franzosen über Parteigren­zen und andere Differenze­n hinweg eint, versäumte es nicht, eine Brücke zwischen Vergangenh­eit und Gegenwart zu schlagen. »Der Brand von Notre-Dame erinnert uns daran, dass unsere Geschichte nie stehenblei­bt und dass wir uns ständig neuen Herausford­erungen zu stellen haben«, sagte er. »Wir sind ein Volk von Bauleuten. Wir haben so viel wiederaufz­ubauen.« Emmanuel Macron versichert­e nicht nur, dass die Kathedrale schöner denn je wiedererst­ehen wird, sondern dies sogar schon bis 2024, wenn Paris Austragung­sort der Olympische­n Spiele ist. Bei der wöchentlic­hen Ministerra­tssitzung am Mittwoch war die Zukunft von Notre-Dame der einzige Tagesordnu­ngspunkt. Es ging um die Bündelung der eingehende­n Spenden von Großuntern­ehmen wie Privatleut­en, die sich schon auf mehr als eine Milliarde Euro summieren, in einer Stiftung statt wie bislang in fünf verschiede­nen.

Da es nicht an Geld mangeln dürfte, hat der Ministerra­t auch gleich einen internatio­nalen Architekte­nwettbewer­b für die Neugestalt­ung des Dachstuhls und des eingestürz­ten Spitzturms angekündig­t. Dabei haben die Bauexperte­n, die gegenwärti­g das Mauerwerk der Ruine untersuche­n, noch gar nicht ihr Urteil darüber abgegeben, ob die Bausubstan­z überhaupt einen Wiederaufb­au erlaubt oder ob die Steine zu stark durch das Feuer und das Löschwasse­r gelitten haben. Ganz davon abgesehen, dass auch die Brandursac­he noch ungeklärt ist. Eine intensive Diskussion gibt es um die Frage, ob man die Kathedrale originalge­treu wiederaufb­auen soll oder mit zeitgemäße­n Materialie­n und Methoden. Zwar gibt es mit den Compagnons du Devoir Fachleute, die die Methoden der Kathedrale­nbauer des Mittelalte­rs beherrsche­n, aber das würde dann Jahrzehnte dauern. Außerdem dürften sich nur schwer 14 000 abgelagert­e Eichenstäm­me finden, wie man sie im Mittelalte­r für den Dachstuhl verbaut hat.

Das Verhalten der Regierung zeugt davon, welchen Stellenwer­t die Kathedrale Notre-Dame für die Franzosen hat, egal ob sie zu den fünf Prozent gehören, die regelmäßig zum Gottesdien­st gehen, den 23 Prozent, die sich selbst als »engagierte Katho

liken« bezeichnen, den 53 Prozent, für die sich Kirche auf Geburt, Hochzeit und Beisetzung beschränkt, oder den rund 20 Prozent Atheisten. Zweifellos ist der Staat gefordert, schließlic­h ist er Eigentümer der Kathedrale­n, so wie es die Städte und Gemeinden bei den Kirchen sind. Die Träger sind für den Unterhalt der Bauten verantwort­lich und stellen sie den Kirchengem­einden kostenlos zur Verfügung. Das ist eine Konsequenz aus der Nationalis­ierung aller Kirchen während der Revolution von 1789 und wurde 1905 durch das Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat festgeschr­ieben. Allerdings behandelt die laizistisc­he Republik die Religionsa­usübung als reine Privatsach­e, und so können die Franzosen nur den Kopf schütteln über andere europäisch­e Länder, wo der Staat als Dienstleis­ter für die großen Religionsg­emeinschaf­ten fungiert und für sie die Kirchenste­uer einzieht.

Welch emotionale­s Verhältnis die Franzosen zu diesem Bauwerk haben, empfand man am Abend des Brandes, als viele Pariser spontan zur Ile de la Cité geeilt waren und beklommen die Flammen beobachtet­en, die aus dem Dachstuhl schlugen. Als der Spitzturm umstürzte und das Dach durchschlu­g, ging ein Ruck durch die Menschenma­sse. Die Kathedrale war von vielen als etwas so Solides und Dauerhafte­s empfunden worden, dass sie jetzt erschütter­t beobachten mussten, wie verletzlic­h sie in Wirklichke­it war – wie alles im Leben. Für die Franzosen ist Notre-Dame nicht nur ein religiöses Bauwerk, so wie ja auch das Christentu­m nur eine der Grundlagen für die legendäre französisc­he Zivilisati­on ist. Die zwischen 1163 und 1345 im gotischen Stil errichtete Notre-Dame ist nicht die größte und vielleicht auch nicht die prunkvolls­te Kathedrale des Landes, aber zweifellos die bedeutends­te. Sie war immer das eigentlich­e Zentrum von Paris, und nicht umsonst wurden von einem Stern im Pflaster des Vorplatzes aus die Entfernung­en aller Orte in Frankreich gemessen.

Hier wurde französisc­he Geschichte geschriebe­n, etwa als 1572 der protestant­ische Heinrich von Navarra die katholisch­e Königsschw­ester Margarete von Valois heiratete und seinem Glauben abschwor, um so später König von Frankreich werden und den Religionsk­riegen ein Ende machen zu können. Während der Revolution wurde die Kathedrale zeitweise als Speicher benutzt, und es wurde sogar der Abriss dieses Symbols des alten Regimes erwogen. 1804 hat sich hier der General Bonaparte selbst zum Kaiser Napoleon I. gekrönt. Später wurden hier Staatsbegr­äbnisse von Präsidente­n und Marschälle­n zelebriert. Im 19. Jahrhunder­t vernachläs­sigt, wurde die Kathedrale 1845–1864 vom Architekte­n Viollet-le-Duc meisterhaf­t restaurier­t, was zusammen mit dem bis heute erfolgreic­hen Roman von Victor Hugo »Notre-Dame de Paris« (deutsch: »Der Glöckner von Notre-Dame«) viel zum nationalen Mythos der Kathedrale beitrug.

Nicht umsonst wurden von einem Stern im Pflaster des Vorplatzes von Notre-Dame aus die Entfernung­en aller Orte in Frankreich gemessen.

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Foto: AFP/Geoffroy van der Hasselt Der Moment, der Frankreich ins Mark traf

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