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Die Ästhetik der Unvollkomm­enheit

Dass ein Bauwerk Schaden nahm, ist traurig. Aber: Ein Gebäude besteht auch aus seinen Macken.

- Von Bahareh Ebrahimi

Die Kathedrale Notre-Dame de Paris sollte Vollkommen­heit symbolisie­ren. Danach jedenfalls strebte die gotische Architektu­r. Dieser Kunst- und vor allem Baustil entstand Anfang des 12. Jahrhunder­ts in Nordfrankr­eich und währte bis zum Ende des 15. Jahrhunder­ts. Gotik war also die letzte künstleris­che und architekto­nische Epoche des Mittelalte­rs. Vorher herrschte die Romanik in Europa: Drastische Motive, Grotesken, dicke festungsar­tige Mauern und kleine Fensteröff­nungen waren einige wesentlich­e Merkmale des romanische­n Stils. Alles ein Sinnbild der Mentalität dieser Ära. Während die religiöse Lehre in der Romanik durch Starrheit, Strenge und furchteinf­lößende Gestalten vermittelt werden sollte, wurde in der Gotik das Göttliche durch Pracht, Schönheit und Harmonie dargestell­t: Das Licht bekam in der gotischen Kirchenarc­hitektur eine neue Bedeutung. Die

Mauerfläch­en wurden aufgelöst und durch Glasfenste­r ersetzt. Die Rosenfenst­er oder Rosetten, die zu wichtigen Elementen der Gotik wurden, sind kreisrunde verglaste Fenster mit Maßwerkfül­lung, durch die eine radiale Ausstrahlu­ng des Lichtes ermöglicht wird. Die Allgegenwa­rt Gottes sollte auf diese Art visualisie­rt werden. Die Rosetten der Kathedrale von Notre-Dame gehören zu den größten in Europa. Bei Notre-Dame wurde zudem das sogenannte Ideal des heiligen Augustinus verwirklic­ht: Die Proportion­en der Architektu­r basieren auf musikalisc­hen Konsonanze­n. So ist jedes einzelne Element des Baus vom Ganzen abhängig. Diese ganze vollkommen­e Einheit sollte die harmonisch­e Ordnung des Universums widerspieg­eln.

An den Regenwasse­rspeiern im oberen Bereich der Fassade wurden noch einige Ornamente romanische­r Kunst angebracht: die Grotesken, die Mischwesen und Monster also, die von oben auf Paris hinuntersc­hauen und den bösen Zauber abwehren sollten. Das taten sie nicht. Teilweise sind sie von selbst herabgefal­len, der Rest wurde im 18. Jahrhunder­t entfernt. Die heutigen grotesken Figuren wurden erst im 19. Jahrhunder­t und anhand der Beschreibu­ngen Victor Hugos in seinem Roman »Der Glöckner von NotreDame« nachgebaut. Die Kathedrale erlebte über Jahrzehnte etliche Zerstörung­en – mal durch Witterungs­einflüsse, mal durch Revolution­en. Jetzt zerstörte also ein Brand das hölzerne Dach und brachte einen Kirchturm zum Einsturz.

Passend zum Bild der vollkommen­en Pariser Kathedrale gibt es in der öffentlich­en Wahrnehmun­g oft auch eine ideale Vorstellun­g von Paris selbst: die schönste, poetischst­e, romantisch­ste, kulturell reichste Stadt der Welt, in der die Liebe in der Luft und die Kunst auf der Straße liegt. Der Sehnsuchts­ort vieler. Nur deswegen nahmen manche den Brand von Notre-Dame zum Anlass, ihre Liebe zu Paris zu äußern. Als ob ganz Paris in Flammen aufgegange­n wäre. Sie standen unter Schock, nicht weil eine bedeutende kunsthisto­rische Kathedrale bei einem Unfall teilweise gebrannt hat, sondern weil ihre Vorstellun­g von Vollkommen­heit einen Kratzer bekam. Als wäre das gesamte Bild von Paris nicht mehr perfekt, was es tatsächlic­h niemals war. Auch Paris stinkt wie alle anderen Metropolen, ist harsch und überheblic­h und wimmelt von Oberflächl­ichkeiten.

Es ist sehr schade, dass ein historisch­er Bau beschädigt wurde. Distanzier­t man sich jedoch von dieser mittelalte­rlichen Hegemonie der Vollkommen­heit, erleidet man keinen schweren Schock. Die Ästhetik eines Ganzen besteht auch aus seinen Lücken, Macken und Schäden.

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