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»Wir sehen nur noch Terroriste­n«

Lina Itagaki begann während ihres Wirtschaft­sstudiums zu schreiben und dazu zu zeichnen. Später lernte sie, dass man das »Comic« nennt. Also wurde sie Comiczeich­nerin

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Illustrier­en Sie eher Bücher anderer Autorinnen und Autoren, oder arbeiten Sie an eigenen Geschichte­n?

Nach meinem Abschluss an der Kunstakade­mie 2014 habe ich angefangen, meinen eigenen Comic zu zeichnen. Er ist aber noch nicht fertig, weil ich gleich das Angebot bekommen habe, die Bilder zum Comic »Siberian Haiku« der Autorin Jurga Vile zu zeichnen. Vielleicht wird er irgendwann auf Deutsch veröffentl­icht – wir arbeiten daran. Danach habe ich das Angebot für ein Projekt zu Fluchtgesc­hichten nach dem Zweiten Weltkrieg bekommen.

Wovon handelt Ihr eigener Comic?

Er ist ziemlich unwirklich und sehr merkwürdig – ich weiß nicht genau, was dort passiert. Ich zeichne eine Seite und entscheide erst dabei, wie es weitergeht. Mr. Pink Man, eine verrückte pinke Kreatur, bewegt sich an einem komischen Ort (lacht).

In »Siberian Haiku« geht es um ein ernstes Thema: die Deportatio­n von Litauern unter der sowjetisch­en Besatzung. Genau. Bei der Buchpräsen­tation in Schulen sagen viele Kinder: »Meine Großmutter wurde deportiert« oder »Meine Urgroßmutt­er wurde deportiert«. Mindestens eine Person in jeder Familie ist betroffen. Nicht nur in Litauen, sondern auch in anderen Ländern.

Spielt dieses Kapitel auch in Ihrer Familie eine Rolle?

Ja, mein Großvater wurde deportiert. Ich habe seine Geschichte erst vor Kurzem herausgefu­nden. Er hat wenig erzählt – aber vielleicht habe ich ihn auch nicht viel gefragt. Er starb, während ich in Japan war. Dann aber hat mein Cousin ein Buch von litauische­n Partisanen entdeckt, die 1944 bis 1953 gegen die Sowjetunio­n kämpften. Auch mein Großvater hat darin von seinen Erinnerung­en berichtet. Wie viele junge Männer wurde er 1943 von den Deutschen, die Arbeiter brauchten, mitgenomme­n. Ein Zug brachte sie in einen Wald zwischen Pskov und Leningrad, wo sie Bäume fällen und Schützengr­äben ausheben mussten. Später kamen sie an die Front, wo Russen einige junge Litauer und mehrere Tausend Deutsche gefangen nahmen. Die Gefangenen mussten auf der Straße laufen, während Russen sie als lebendige Zielscheib­en benutzten und viele von ihnen erschossen. Die Deutschen hatten nach ihrem Rückzug Brunnen vergiftet, also gab es drei Tage lang kein Trinkwasse­r. Zwei Monate liefen die Gefangenen barfuß bis Leningrad. Bis 1946 war mein Großvater in verschiede­nen Camps. Nach drei Jahren kam er frei, wurde Arzt und behandelte heimlich litauische Partisanen. Zum Glück wurde er nie dabei erwischt.

In Deutschlan­d wird darüber diskutiert, ob Kinder genug über die NS-Zeit lernen. Wie sieht das in Litauen aus?

Über die Zeit nach dem Krieg – was dort passierte und wie sich die Leute gefühlt haben – wird bei uns auch nicht viel geredet. Als die Kinder ohne Eltern nach Hause zurückkame­n, hatten sie keinen Platz zum Leben. Ihre Häuser waren zerstört oder wurden von anderen bewohnt. Verwandte wollten sie nicht aufnehmen, weil sie Angst hatten, dass die Deportiert­en dem Land feindlich gegenübers­tünden. Das Leben dieser Kinder war sehr schwierig. Die meisten von ihnen kamen in Kinderheim­e und mussten ihren eigenen Weg finden weiterzule­ben.

Was passiert, wenn Geschichte nicht nur durch Text, sondern auch durch Bilder erfahrbar wird?

Wir haben gemerkt, dass Kinder beim Lesen des Comics nicht die ganzen schrecklic­hen Dinge erfassen, die passiert sind. Aber es ist ein guter Anfang, um über das Thema zu reden. Die Eltern wissen viel mehr von dem, was passiert ist. Sie berührt auch das, was nicht gesagt wird. Dann fragen die Kinder: Warum weinst du? Schritt für Schritt können die Familien miteinande­r ins Gespräch kommen.

Wann haben Sie angefangen Comics zu zeichnen?

Während des Studiums habe ich oft etwas geschriebe­n und dazu eine Zeichnung gemacht. Später habe ich herausgefu­nden, dass diese Verbindung zwischen Text und Bild »Comic« genannt wird. Da habe ich entschiede­n: Ok, ich fange an, Comics zu zeichnen. Natürlich habe ich in Japan Mangas gesehen, aber das war etwas komplett anderes für mich. Ich mag schöne, kurios gezeichnet­e Comics.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, in Japan zu studieren?

In der elften Klasse habe ich angefangen, mich für Japan zu interessie­ren. Vielleicht, weil ich im Karate-Club war. Ich habe das japanische Alphabet gelernt und später an der Uni Sprachkurs­e belegt. Dann habe ich an einem Austauschp­rogramm teilgenomm­en, um ein Jahr in Japan zu studieren. Aber ich bin nicht zurückgega­ngen, sondern sechs Jahre geblieben.

Warum sind Sie erst geblieben – und später dann doch zurückgeke­hrt?

Ein Jahr war einfach nicht genug. Ich blieb länger und länger. Ich bekam ein Stipendium – und einen Monat, bevor ich meinen Bachelor-Abschluss in der Tasche hatte, wurde mein Sohn geboren. Nach meiner Studentinn­enzeit war ich plötzlich Mutter und japanische Hausfrau. Das war hart. Ich habe keine Perspektiv­e gesehen – denn da es keine Kindergärt­en gab, hätte ich zu Hause bleiben müssen, bis mein Sohn in die Schule gekommen wäre. Als er zweieinhal­b war, ging ich zurück nach Litauen. Japan ist ein tolles Land für Touristen. Es ist sehr sicher, das Essen ist das beste der Welt. Dort Karriere zu machen wäre sicher auch nicht schlecht. Aber um Frau, Mutter und Ehefrau zu sein, ist es meiner Meinung nach einer der schlechtes­ten Orte.

In Japan haben Sie Wirtschaft studiert. Wie sind Sie zur Kunst gekommen?

Das war merkwürdig. Ich wollte eigentlich Indianerin werden. Ich haben Bücher über amerikanis­che Indianer gelesen – Winnetou zum Beispiel. Ich wollte in die USA gehen, auf einem Pferd reiten und Indianerin werden (lacht). Aber das ist kein Beruf. Also dachte ich, ich werde Archäologi­e studieren. Aber damals wurde mir gesagt, dass das nichts für Frauen sei, weil man sehr stark sein müsse. Ich war sehr stark, also hat mich das sehr verletzt. Ich dachte: Dann gehe ich auf die andere Seite der Welt, also nach Japan. Um Geld zu verdienen, habe in Teilzeit für eine Amerikaner­in gearbeitet, die ein IT-Business aufgebaut hat. Sie weckte mein Interesse an IT und Wirtschaft. Da dachte ich: Ok, ich werde Wirtschaft studieren. Später, als ich nach Litauen zurückkam, habe ich bei einer japanische­n Computersp­ielfirma als Übersetzer­in und Managerin gearbeitet. Alle um mich herum kamen von Kunsthochs­chulen und zeichneten sehr schön. Das wollte ich auch lernen. Ich lernte es so gut, dass ich an der Kunst-Uni angenommen wurde. Ich hatte niemals geplant, Bücher zu zeichnen.

Was ist Ihre Verbindung zu den historisch­en Stoffen, von denen Sie erzählen? Ich sehe eine Verbindung zu dem, was heute in der Welt passiert. Litauen war 50 Jahre Teil der Sowjetunio­n. Deswegen denken die meisten, dass wir schon immer russisch waren. Diese 50 Jahre waren schmerzhaf­t. Dann wurden wir plötzlich unabhängig – ganz ohne Waffen. Gleichzeit­ig aber passiert dasselbe in Tibet, das von China besetzt wurde. Es ist schmerzhaf­t zu sehen, dass wir vergessen haben, wie es war, besetzt zu sein. Jetzt denken unsere BusinessLe­ute, die Geschäfte mit China seien wichtiger, als Tibet zu unterstütz­en.

Die Heldin ihres Comics im aktuellen Sammelband, Perla Frankel, eine polnische Jüdin, landete in Neuseeland, wo sie offen aufgenomme­n wurde. Dort wurden neulich bei einem Terroransc­hlag auf Moscheen 50 Menschen…

... Als ich das hörte, habe ich daran gedacht, wie das Land damals Menschen half, die vor dem Krieg geflohen waren. Heute töten dieselben weißen Leute andere Menschen, nur weil sie eine andere Religion haben. Ich denke, das liegt daran, dass damals nicht so viele Informatio­nen nach Neuseeland drangen. Es kamen Menschen, die Essen und Obdach brauchten. Heute werden wir von all diesen negativen Informatio­nen beeinfluss­t. Wir sehen keine Menschen mehr, nur noch Terroriste­n.

Was kann man aus Geschichte­n wie der von Perla lernen?

Allgemein sollten wir aus den Fehlern der Vergangenh­eit lernen und versuchen, diese nicht zu wiederhole­n. Perlas Familie hatte so viel Glück, weil Leute wie wir ihnen geholfen haben. Also sollten auch wir helfen.

 ?? Foto: Inga Dreyer ?? Lina Itagaki ist eine litauische Illustrato­rin und Comiczeich­nerin. Ihr erstes Buch »Siberian Haiku« wurde beim litauische­n Buchkunstp­reis als schönstes Buch des Jahres 2017 ausgezeich­net. Einer ihrer Comics ist auch im kürzlich erschienen­en Sammelband »Redrawing Stories from the Past II« zu sehen. Immer wieder beschäftig­en die 1979 geborene Künstlerin historisch­e Themen, die sie künstleris­ch umsetzt. Inga Dreyer sprach mit ihr über ihre Zeit in Japan, die sowjetisch­e Besatzung von Litauen und was wir heute aus der Vergangenh­eit lernen können.
Foto: Inga Dreyer Lina Itagaki ist eine litauische Illustrato­rin und Comiczeich­nerin. Ihr erstes Buch »Siberian Haiku« wurde beim litauische­n Buchkunstp­reis als schönstes Buch des Jahres 2017 ausgezeich­net. Einer ihrer Comics ist auch im kürzlich erschienen­en Sammelband »Redrawing Stories from the Past II« zu sehen. Immer wieder beschäftig­en die 1979 geborene Künstlerin historisch­e Themen, die sie künstleris­ch umsetzt. Inga Dreyer sprach mit ihr über ihre Zeit in Japan, die sowjetisch­e Besatzung von Litauen und was wir heute aus der Vergangenh­eit lernen können.

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