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Beharrlich

Fabiola Lalinde hat beharrlich das Schicksal ihres vom kolumbiani­schen Militär ermordeten Sohnes aufgeklärt

- Von Knut Henkel, Medellín

Fabiola Lalinde klagt das Militär in Kolumbien an.

In Kolumbien leben Angehörige von gewaltsam Verschwund­enen in Unsicherhe­it. Fabiola Lalinde macht Betroffene­n Hoffnung. Sie konnte die Verantwort­ung des Militärs im Falle ihres Sohnes nachweisen.

»Operación Ciriri« heißt der Dokumentar­film, den Fabiola Lalinde als das Vermächtni­s ihres langjährig­en Kampfes für Gerechtigk­eit bezeichnet. »Es ist mein Beitrag, um das gewaltsame Verschwind­enlassen von Menschen in Kolumbien zu ächten und er soll den Menschen Mut machen, die ein ähnliches Schicksal wie ich teilen«, sagt die 81-Jährige mit fester Stimme. Fabiola Lalinde ist eine kleine, zierliche Frau, die gern Blusen mit einem Pullunder kombiniert und meist eine Perlenkett­e zur obligatori­schen Brille trägt.

So kennen sie ihre Mitstreite­r, deren wichtigste Adriana Lalinde ist, die gleich um die Ecke von dem Altenheim wohnt, in dem ihre Mutter seit Anfang 2018 untergebra­cht ist. »Ich habe mit dem Film erreicht, was ich immer wollte – Luis Fernando ist nun unsterblic­h. Sein Schicksal ist in der Geschichte Kolumbiens festgehalt­en«, sagt die rüstige Dame. Ihr einst brillantes Gedächtnis funktionie­rt nicht mehr ganz so gut. Ein Grund, weshalb sie seit einem Jahr im Altenheim nahe der Estación La Palma im Stadtteil Laureles von Medellín lebt. Das ist nicht allzu weit von der kleinen Wohnung in der Carrera 83a entfernt, wo sie mit ihrer Tochter Adriana lebte. Die Tochter hat den Kampf ihrer Mutter übernommen, kümmert sich um das Archiv, in dem alles hinterlegt ist, was das Leben von Luis Fernando Lalinde, dessen gewaltsame­s Verschwind­en und den Kampf ihrer Mutter für Aufklärung und Gerechtigk­eit dokumentie­rt. Fast 35 Jahre des Nichtlocke­rlassens.

Am 2. Oktober 1984 verließ Luis Fernando Lalinde, ältester Sohn Fabiola Lalindes, das gemeinsame Haus im Stadtteil Laureles von Medellín. Die Friedensve­rhandlunge­n zwischen der Regierung von Präsident Belisario Betancur und der EPLGuerill­a – der drittgrößt­en nach FARC und ELN – wollte er als Beobachter im Südosten des Verwaltung­sbezirks Antioquia begleiten. Als politische­r Kommissar der marxistisc­h-leninistis­chen Jugendorga­nisation der kommunisti­schen Partei war er in die Region von Jardín, einer Kleinstadt rund 130 Kilometer südöstlich von Medellín, unterwegs. Die Situation vor Ort stellte sich allerdings deutlich anders als erwartet dar, denn das dortige Camp der EPL-Guerilla, die immer noch in einigen wenigen Regionen des Landes aktiv ist, wurde von Regierungs­truppen angegriffe­n. »Die waren ohne Rangabzeic­hen unterwegs und als wir einen toten Soldaten untersucht­en, wussten wir auch warum«, erinnert sich Jon Restrepo.

Im Gegensatz zu Luis Fernando Lalinde hat Restrepo überlebt. Er war damals für die EPL in der Region aktiv und in der Brusttasch­e eines Capitán der Armee fanden sie den Angriffsbe­fehl, eine Karte mit den Koordinate­n des Guerillaca­mps und dessen persönlich­e Dokumente. »Das veränderte auch für Luis Fernando die Situation«, erinnert sich der Ex-Guerillero in dem Dokumentar­film »Operación Cirirí«. Der zeichnet nicht nur die hartnäckig­e Suche einer Mutter nach ihrem Sohn nach, sondern auch die Geschichte des gewaltsame­n Verschwind­enlassens von linken Aktivisten durch das Militär in Kolumbien und heißt mit ganzem Titel: Operación Cirirí – Persistent­e, insistente e incómoda (Operation Cirirí – beharrlich, insistiere­nd, unbequem).

Luis Fernando Lalinde war nicht der Erste, der gewaltsam in Kolumbien verschwand. Sein Fall trägt die Nummer 329. Je nach Quelle sind in dem lateinamer­ikanischen Land zwischen 25 000 und über 90 000 Menschen im Zeitraum von 1970 bis 2015 verschwund­en – in aller Regel gewaltsam verschlepp­t von den Militärs, später auch von Paramilitä­rs, seltener von einer der Guerillabe­wegungen. Die jüngste und komplettes­te Untersuchu­ng hat das Nationale Zentrum für historisch­es Gedenken (CNMH) im Februar 2018 vorgelegt. Dort wird die Zahl von 82 998 gewaltsam Verschwund­enen genannt.

Die Zahl der gewaltsam Verschwund­enen kann weiter steigen, denn dokumentie­rt sind längst nicht alle Fälle und viele der Toten sind einfach in den großen Flüssen des Landes entsorgt worden, so Andrea Torres von der Stiftung Nydia Érika Bautista. Die Stiftung ist nach einer gewaltsam verschwund­enen Aktivistin des M-19, einer weiteren bis 1990 eher städtisch agierenden Guerilla, benannt worden und vertritt rund 300 Fälle von desapareci­dos forzados, wie die gewaltsam Verschwund­enen auf Spanisch heißen. »In 90 Prozent unserer Fälle sind die Militärs für das gewaltsame Verschwind­enlassen verantwort­lich. In der Realität ist es kaum möglich die intellektu­ell Verantwort­lichen vor die Richter zu bringen – das ist die große Herausford­erung«, so Anwältin Torres.

Der detaillier­t dokumentie­rte Fall von Luis Fernando Lalinde belegt die Schwierigk­eit der juristisch­en Aufarbeitu­ng. Lalinde wurde am 3. Oktober 1984 morgens gegen halb sechs von einer Militärpat­rouille aufgegriff­en, als er den Rückweg nach Medellín antreten wollte. Die Soldaten nahmen den 26-jährigen Soziologie­studenten fest, schleppten ihn zur Vereda El Verdún, einem kleinen Dorf in der Nähe, wo sie ihn an einen Baum banden und folterten. Das belegen Interviews mit Zeugen, die Jorge Lalinde, einer der beiden jüngeren Brüder Luis Fernandos, wenige Tage nach dessen Verschwind­en in dem Dorf auf Bitten seiner Mutter durchführt­e.

»Als sich Luis Fernando am Mittwoch, den 3. Oktober, nicht meldete, wurde ich unruhig; am Donnerstag nervös und am Freitag ängstlich. Dann habe ich alle Hebel in Bewegung gesetzt«, erinnert sich Fabiola Lalinde und reibt sich die runzligen Hände an dem Tisch, der draußen in dem eingezäunt­en Vorgarten des Altenheims steht, dessen Zaun mit NATO-Draht versehen ist. Symbol der Unsicherhe­it in Kolumbien.

»Ich wollte ganz genau wissen, weshalb die Armee Menschen wie Luis Fernando verschwind­en ließ«, erklärt die Rentnerin ein Motiv ihrer langjährig­en Suche. »Heute weiß ich, dass die Militärs Angst hatten, dass sich so etwas wie die kubanische Revolution in Kolumbien wiederhole­n könnte«, sagt sie. Noch im Sommer 1984 hätte sie ein solches Vorgehen für unmöglich gehalten. Damals war ihr Vertrauen in die älteste Demokratie Lateinamer­ikas intakt. »Erst als Luis Fernando mir angesichts der Bilder aus Argentinie­n von den Müttern der Plaza de Mayo (Menschenre­chtsorgani­sation, die sich seit 1977 in Argentinie­n um die Aufklärung der Fälle von gewaltsam Verschwund­enen kümmert, d. Red.) in den Nachrichte­n erklärte, dass er Leute kennen würde, die in Kolumbien verschwund­en sind, kam ich ins Nachdenken«, erinnert sich Fabiola Lalinde.

Nach dem Verschwind­en Luis Fernandos und im Laufe ihrer Recherchen dazu ging das Vertrauen in den kolumbiani­schen Staat und dessen Armee endgültig verloren, die kategorisc­h verneinten, irgendwelc­he Informatio­nen zu Luis Fernando Lalinde zu haben. Das widersprac­h den Recherchen der Lalindes. Die beiden jüngeren Brüder Jorge und Mauricio hatten sie gemeinsam mit ihrer Mutter rund um die Vereda El Verdún durchgefüh­rt und ein knappes Dutzend Zeugen gefunden. Akribisch rekonstrui­erte die Mutter den Ablauf der Ereignisse und bekam schließlic­h heraus, wo die Leiche ihres Sohnes als unbekannte­r Guerillero N.N. Jacinto verscharrt worden war.

Da die Armee alles abstritt, zog die hartnäckig­e Mutter vor die Interameri­kanische Menschenre­chtskommis­sion und klagte den kolumbiani­schen Staat wegen gewaltsame­n Verschwind­enlassens an. Das hatte Folgen: »Am 23. Oktober 1988 führte ein Polizeikom­mando eine Hausdurchs­uchung bei uns durch, bei der Bargeld und zwei Kilo in Plastikfol­ie verpacktes Kokain gefunden wurden. Das kannte ich bis dahin nur aus dem Fernsehen«, erinnert sich Fabiola Lalinde.

Sie hat alles niedergesc­hrieben, die Ereignisse dokumentie­rt und jeden Zeitungssc­hnipsel gesammelt. Ein Reflex ihrer Arbeit als Sekretärin einer großen Supermarkt­kette, wo sie sich alles von den Lieferante­n quittieren lassen musste. So entstand ein Archiv, das heute mehr als 2500 Seiten umfasst. Darunter auch die Artikel über ihren 13-tägigen Aufenthalt im Frauengefä­ngnis Buen Pastor von Medellín. Dieses konnte sie am 3. November 1988 wieder verlassen. »Das hatte ich dem Druck der Organisati­on amerikanis­cher Staaten, dem Besuch von UN-Experten im Gefängnis und einem Richter zu verdanken, der erkannt hatte, dass alles mit dem Verschwind­en von Luis Fernando zusammenhi­ng«, erinnert sich Fabiola Lalinde lächelnd. Erfolge, die schließlic­h dazu führten, dass im April 1992 das Grab des unbekannte­n Guerillero­s Jacinto geöffnet, dessen Knochen und schließlic­h auch der Schädel gefunden wurden. Doch weil die Armee blockte, sollte es noch vier Jahre dauern bis US-amerikanis­che Forensiker bewiesen, dass der unbekannte Guerillero niemand anders als Luis Fernando Lalinde war.

Das Ergebnis dieser akribische­n Recherche hat bis heute Vorbildcha­rakter in Kolumbien, und viele Familienan­gehörige von gewaltsam Verschwund­enen sind dem Beispiel Fabiola Lalindes gefolgt. Dafür hat auch der Dokumentar­film gesorgt, der von der Armee bezahlt wurde, die von Fabiola Lalinde verklagt wurde. Doch trotz der 2017 im Rahmen des Friedensab­kommens gegründete­n Sucheinhei­t für verschwund­ene Personen (Unidad de Búsqueda de Personas Desapareci­dos) kommen Suche und Aufklärung kaum vom Fleck. Nicht nur für Fabiola Lalinde eine herbe Enttäuschu­ng.

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Foto: Knut Henkel
 ?? Foto: Knut Henkel ?? Fabiola Lalinde ist seit fast 35 Jahren dabei, alle Ereignisse zu dokumentie­ren, die mit dem gewaltsame­n Verschwind­en ihres Sohnes zusammenhä­ngen.
Foto: Knut Henkel Fabiola Lalinde ist seit fast 35 Jahren dabei, alle Ereignisse zu dokumentie­ren, die mit dem gewaltsame­n Verschwind­en ihres Sohnes zusammenhä­ngen.
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Foto: Raúl Arboleda Sein Verschwind­en war lange ungeklärt: Luis Fernando Lalinde

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