Unabhängigkeit bewahren
Luís Fazenda, Abgeordneter des portugiesischen Linksblocks, über Tolerierungspolitik
Portugal gilt als Vorbild einer fortschrittlichen Krisenüberwindung. Ist dem wirklich so?
Die Krise 2008 und die von dem damaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble propagierten Rezepte hatten auch in Portugal verheerende Auswirkungen: 20 Prozent Arbeitslosigkeit sowie Lohn- und Rentenkürzungen. Ausländische Unternehmen konnten hier sehr günstig Betriebe aufkaufen. Heute liegt die offizielle Arbeitslosigkeit bei sechs Prozent, bei der Jugend ist sie höher. Doch 40 Prozent der Jobs sind prekär. Die Löhne sind wieder etwas gestiegen, der Mindestlohn wurde auf 600 Euro erhöht. Die Statistik verdeckt allerdings, dass eine halbe Million Menschen ausgewandert sind.
Für deutsche Sozialdemokraten und Linke gilt Portugal als Erfolgsmodell einer links tolerierten sozialdemokratischen Regierung ...
Dies ist interessant zu hören, zumal die SPD schon länger mit den Christdemokraten kooperiert. Der Bloco de Esquerda toleriert ebenso wie das kommunistisch geführte linke Wahlbündnis CDU seit 2015 die Minderheitsregierung der sozialdemokratischen PS unter António Costa. Wir wollten aber ausdrücklich keine Ministerposten übernehmen und uns die Unabhängigkeit bewahren, die Regierung zu kritisieren. In wichtigen Bereichen, wie etwa der Europapolitik, vertritt die PS eine ganz andere Linie. Sie ist sehr folgsam gegenüber der Politik der EU-Kommission. Dafür wollen wir nicht verantwortlich gemacht werden.
Wie hat die Minderheitsregierung trotz allem fast vier Jahre gehalten?
Jedes Jahr wird in der Haushaltsabstimmung eine Art Vertrauensfrage gestellt. Ohne Mehrheit für den Haushalt wären sofortige Neuwahlen die Folge. Sowohl BE wie auch CDU haben immer wieder separat mit der PS verhandelt und so die soziale Komponente der aktuellen Regierungspolitik verbessern können. Bei anderen Gesetzen stimmen wir allerdings nicht immer mit der PS, die sich manchmal ihre Mehrheiten bei den Konservativen suchen muss.
Wo konnten Sie der PS denn konkret Zugeständnisse abtrotzen?
PS, BE und CDU haben einen Stopp der von der Vorgängerregierung eingeleiteten Privatisierungen im Verkehrsbereich beschlossen. Das traf auch die Fluggesellschaft TAP und die Staatsbahn CP. In Lissabon gab es eine radikale Fahrpreissenkung, Familien- und Sozialtickets sowie Nulltarif für Kinder bis zwölf Jahre.
Woran macht sich die von Ihnen kritisierte EU-freundliche Politik der PS-Regierung fest?
Anfänglich hatte die PS eine relativ kritische Position gegenüber der EU und wollte eine EU-weite Initiative für den Ausbau des öffentlichen Dienstes starten. Dann verstummte ihre Kritik, als ihr Finanzminister Mário Centeno Anfang 2018 Chef der Eurogruppe wurde. Dies war ein kluger Schachzug Wolfgang Schäubles. Die PS gibt nun den Druck aus Brüssel weiter.
Und wie drückt sich diese Wende der PS-Regierung praktisch aus?
Costa und Centeno geben sich als Hardliner in Sachen »Haushaltdisziplin« und schielen vor den Wahlen im Oktober auf konservative Wähler. Dies kam im Konflikt um die Lehrerbesoldung zum Vorschein. Hier wurden trotz gewerkschaftlicher Proteste unter dem Druck der Troika vor neun Jahren Beförderungen und Aufstiege auf Eis gelegt. Die Gehaltsdeckelung senkt die Rentenerwartung und hat Unmut ausgelöst. Nur BE und CDU fordern nach wie vor, dass dies rückgängig gemacht wird. Im Parlament schlugen sich die Konservativen jetzt in dieser Frage auf die Seite der PS.
45 Jahre nach dem Ende der Rechtsdiktatur durch die »Nelkenrevolution« 1974 gibt es in Portugal immer noch keine bedeutende rechtspopulistische Partei ...
Das hat Gründe. Hier gibt es weniger Sündenböcke in Form von Geflüchteten als anderswo. BE und Kommunisten sind als Anti-EstablishmentParteien verankert. Trotzdem teile ich die Sorge, dass sich eine Rechtspartei etablieren könnte. Der Ton wird schärfer. Der Wahlsieg von Jair Bolsonaro in Brasilien findet auch in Portugal ein Echo. Polizeibeamte, die sich beim Einsatz in Stadtbezirken mit großen sozialen Problemen überfordert sehen, schwärmen von Bolsonaro und sind für harte Law-and-Order-Parolen ansprechbar. Darauf versucht sich die neue Rechtspartei »Chega!« (»Es reicht«) zu stützen, die als Wahlbündnis »Basta!« zur EUWahl antritt.