Das Dunkel kann lächeln
Zum 85. Geburtstag des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg
Idealismus – das ist der Gedanke, bei dem sich hinterher herausstellt: Es war weniger dran, als man dachte. Nach jedem Elend bleibt dann der alte Aberglaube: Man könne den missratenen Dingen vor allem durch Verdrängung beikommen. Geschlossene Augen sind das fortwährend gewählte Rezept des Menschen, um sich jene Ruhe zu verschreiben, die einen kleinen Frieden herbeilügt – gegen die Finsterfarben der realen Lage und deren falsche Einschätzung. Im März 2011 geschah ein Atomunglück in Japan – Adolf Muschg, der große europäische Erzähler aus der Schweiz, der an diesem Montag 85 Jahre alt wird, legte Ende 2018 einen Roman vor, der Malaise und Menetekel im Titel trägt: »Heimkehr nach Fukushima«.
Rund um den Unglücksmeiler das hörbare Pochen im Künstler: Nicht die Illusion zuzulassen, der Mensch sei glänzender Stahl in jener Kette der Schöpfungen, die Welt bildet und Welt bindet. Immer meint der Mensch, er bringe diese Kette zum Funkeln, aber er besetzt lediglich jene Stelle, an der sie reißen wird. Immer wieder.
Fukushima. Und dorthin Heimkehr? Zu jener verstrahlten Erde, die riesige Felder schwarzer Plastiksäcke bildet? Der Schweizer Architekt Paul Neuhaus fliegt im Roman nach Japan, verliebt sich in seine Übersetzerin Mitsu, die ihn auf einer Reise ins verseuchte Gelände begleitet. Mitsus Onkel, Bürgermeister einer verlassenen Stadt, will Evakuierte zur Rückkehr bewegen, und Paul kann helfen – beim Aufbau einer Künstlerkolonie, von der neuer Lebensmut ausgehen möge: Aufbauenergie.
Muschg ist kein Apokalyptiker, aber an die verlässliche Verbindung von Geschichte und moralisch-ethischer Befestigung der Welt konnte er noch nie glauben. Doch hat er (mit einer Japanerin verheiratet) just über Fukushimas Trauma ein – bezauberndes Buch geschrieben. Über das, was wir Schicksal nennen. Was in unserer Biografie ist fremdgesteuerte Fügung, was Folge eigener Strebsamkeit? Halt Abstand zu jedem, der angeblich Antwort weiß und fraglos auf die Vernunft schwört. Leider existiert keine andere Lebensform als Schuld – nimm sie an, belebe sie. Ja, umheitere sie. »Er glaubte das Dunkel lächeln zu sehen«, heißt es im Buch. Der Blick des Romans geht bedrängend malerisch auf die verlassenen Orte, die aussehen, als seien sie nur für einen vorübergehenden Moment eingefroren. Lähmung, Grauen. Und
trotzdem und schier unglaublich: Aufreizend kurz ist der Weg zum Satz: »Fukushima mon amour.« Da wird gejätet, obwohl nichts mehr Frucht bringt; da wird Vieh gepflegt, das seinen Nutzen für immer verloren hat. Liebe, auch Heimatliebe, die unverzichtbare, negiert die Drohung der Verfallsdaten.
Muschg gehört zu den kritischsten Köpfen seines Landes. Der langjährige Sprach- und Literaturprofessor in Zürich sowie Präsident der Akademie der Künste Berlin (2003 bis 2006) ist Schweizer mit Wissen: An ozeanischen Stränden weitet sich die Welt, vor Felswänden verengt sie sich. Das gibt der Schweiz einen merkwürdig schillernden Charakter zwischen trotzigem Binnenstolz und fahnenfliehenden Öffnungsträumen. Der Sohn eines so wohlhabenden wie strengen Pietisten aus Zollikon greift schon in jungen Jahren zur großen »Rettungsfantasie« seines Daseins: zur Kunst. Der Vater stirbt früh, so erweisen sich Lesen und Fabulieren als Hilfe zur Selbsthilfe – beim Leben mit einer Mutter, die von schweren Verzweiflungsschüben gefoltert wird. Der Traum vom Schriftsteller übersteht auch die Existenz einer Lehrerschaft in Zürich und einer Lektorenzeit in Japan.
Der Autor zahlreicher Romane (»Im Sommer des Hasen«, »Albissers Grund«, »Der Rote Ritter«) zielt in seinem ästhetischen und geistigen Streben nicht auf programmatische Rundungen, er misstraut grundsätzlich den großen Entwürfen, »ein Ganzes zeigt sich nur in der Behandlung der Einzelheiten und in der Frage nach ihrem Zusammenhang mit jeder anderen Einzelheit.« Seine zahlreichen Essays umkreisen die Schwierigkeit des Zivilisatorischen: »Menschen sind so konstruiert, dass von ihren wahren Empfindungen gleichzeitig das Gegenteil ebenso wahr ist«. Muschg ist den Selbsttäuschungen auf der Spur, die dem Ruch der Gefolgschaft ein Ehrenkleid der treuen Pflichterfüllung umhängen wollen. Aber nie verfällt er einer matten, platten Bürgerschelte. Die Kunst »tanzt auf genau der Stelle, wo uns nicht zu helfen ist«. Mit genau dieser Wahrheit hilft sie.
»Der weiße Freitag« heißt eines seiner betörendsten jüngeren Bücher, erschienen 2017. Muschg, krebskrank, liest Goethe – den Bericht des Dichters von dessen Schweiz-Reise 1779 – er überquerte damals mit seinem Herzog Carl August den Furka-Pass im Wallis. Neun Stunden an einem 12. November im Neuschnee, fast 2500 Meter hoch geht der spätherbstliche Weg. Das beamtete Genie aus Weimar setzte sich einer extremen Erfahrung aus, und jenen Frösten, die allem Leben spotten, entstieg er als ein Neuerweckter. Muschg, für sich selbst das Schlimmste befürchtend, schreibt den medizinisch untermauerten Satz »Ich werde sterben« – die Lektüre Goethes bindet auch ihn stärker denn je ans Irdische.
Der Schriftsteller schildert – angesichts der Krankheit – die Reduzierung seines Hausbesitzes, er zieht mit seiner Frau ins Atelierhaus, das Schreibzimmer liegt jetzt im Keller, und im Garten ist ein Spiegelsystem angelegt, das alles Schöne draußen gleichsam hinab in die Dichterzelle »überträgt«. Schönster Satz im Buch: »Alle Bäume haben eines gemeinsam: Sie sind zu groß für das Grundstück, aber zuständig für unseren Anteil am Himmel.« Reduktion ist Konzentration, denn: Muss die ehrliche Suche nach den Konturen der Existenz nicht mehr und mehr akzeptieren, dass Biografie vor allem eines heißt – Unschärfe und Mehrdeutigkeit? Der 30-jährige Goethe und der greise Muschg: Wie lernt man leben? Wahrscheinlich in dem Moment, da man sich diese Frage stellt. Wahrscheinlich in dem Moment, da dir diese Frage endlich und endgültig abhandenkommt. Überquerungen? Untergrabungen. Der Gipfel ist nicht oben, nein, der Gipfel liegt in dir selbst; durchsteig also die Leere, die steinernen Schwellen im Innern.
Adolf Muschg: Heimkehr nach Fukushima. C.H. Beck, 244 S., geb. 22 €.