nd.DerTag

Hürdenlauf Europawahl

Wohnungslo­se dürfen wählen. Gut informiert werden sie nicht.

- Von Nelli Tügel

Christel T. ist eine von Hunderttau­senden wohnungslo­sen Menschen in Deutschlan­d. Sie dürfen wählen, die Hürden aber, das Wahlrecht auch in Anspruch nehmen zu können, sind hoch.

Wann hat sie das letzte Mal gewählt? Christel T. denkt kurz nach. Es ist Anfang April, ein kalter und sonniger Vormittag, und sie – klein, schulterla­nges Haar, eine Daunenwest­e über dem Rollkragen­pulli – steht vor dem Wahlamt in der Müllerstra­ße 146 im Berliner Bezirk Mitte. Dort will sie sich ins Wählerverz­eichnis aufnehmen lassen. »Das war definitiv vor der Wohnungslo­sigkeit«, sagt sie. »Nachdem ich 2012 meine letzte Wohnung verloren hatte, habe ich das nie hingekrieg­t. Dabei habe ich bei den Bundestags­wahlen 2017 sogar einen Aufruf veröffentl­icht, dass Wohnungslo­se unbedingt ihr Wahlrecht wahrnehmen sollten, aber dann habe ich es selbst verpeilt.« Christel T. lacht. »Das können Sie ruhig schreiben, auch wenn es ein bisschen peinlich ist. Aber die Sache ist: Ich hab so ein Bewusstsei­n, dass ich wähle, wenn alle anderen auch wählen, und da nicht noch so einen Zirkus veranstalt­e.« Doch eigentlich, sagt sie, kennt sie die Regeln. Und dieses Mal, bei den Europawahl­en, will Christel T. ihre Stimme abgeben.

»Die Regeln« sehen vor, dass wohnungslo­se Menschen in der Gemeinde, in der sie sich für gewöhnlich aufhalten, einen Antrag darauf stellen müssen, in das Wählerverz­eichnis aufgenomme­n zu werden. Anders als Personen mit festem Wohnsitz und deutscher Staatsbürg­erschaft oder EUBürger, die schon bei vergangene­n Europawahl­en in Deutschlan­d mitgewählt haben: Diese bekommen mit der Post ihre Wahlbenach­richtigung nach Hause geschickt. Bei wohnungslo­sen Menschen ist dies nicht möglich. Ein Wahlrecht haben sie dennoch.

In Erfahrung zu bringen, wie man es auch wahrnehmen kann, ist allerdings nicht so einfach. Wer die Webseite des Bundeswahl­leiters aufruft, findet dort Anfang April auf der Startseite Informatio­nen zur Briefwahl, zu zugelassen­en Parteien oder auch darüber, was zu tun ist, wenn man noch kurz vor der Wahl umzieht. Später auch darüber, welche Folgen der Brexit-Aufschub für die in der Bundesrepu­blik lebenden Briten hat. Mit einem Klick auf »Informatio­nen für Wählerinne­n und Wähler« erscheinen weitere Erläuterun­gen zum Wahlrecht von EU-Bürgern in Deutschlan­d und Deutschen im EU-Ausland.

Um zu den Informatio­nen für wohnungslo­se Menschen zu gelangen, muss man sich wiederum recht umständlic­h durch ein auf der Seite unter »Service« versteckte­s »Wahllexiko­n« klicken. Und zwar bis zum Schlagwort: »Nicht Sesshafte«. Da dieses »Lexikon« aber für alle Wahlen, nicht speziell für die Europawahl­en, gilt, findet sich dort mindestens eine falsche Informatio­n, nämlich die, dass nur »wohnungslo­se Deutsche« einen Antrag auf Aufnahme ins Wählerverz­eichnis stellen könnten. Was für wohnungslo­se EU-Bürger gilt – allein in Berlin leben davon Schätzunge­n zufolge mehrere Tausend und sie haben bei Europawahl­en ebenfalls das Wahlrecht –, erfährt man nicht. Unter den Antragsfor­mularen fehlt überdies eines, mit dem sich Wohnungslo­se, ob nun deutsche oder nicht-deutsche, in das Wählerregi­ster eintragen lassen können. Ein einheitlic­hes Formular gibt es offenbar gar nicht, anders als für Unionsbürg­er (mit Wohnung).

Dabei betrifft die Frage des Wahlrechts bei Wohnungslo­sigkeit immer mehr Menschen. Und dem »Gesetz über die Wahl der Abgeordnet­en des Europäisch­en Parlaments aus der Bundesrepu­blik Deutschlan­d« zufolge gilt wie bei allen anderen Wahlen auch, dass die Abgeordnet­en nicht nur in allgemeine­r, unmittelba­rer und geheimer, sondern auch in freier und gleicher Wahl bestimmt werden.

Wie kann es also sein, dass die etwa 100 000 in Deutschlan­d lebenden Bürger des Vereinigte­n Königreich­es scheinbar mühelos, schon auf der Startseite des Bundeswahl­leiters, informiert werden über ihre Rechte bei den Europawahl­en – und Hunderttau­sende Wohnungslo­se nur unzureiche­nd? Christel T. hält dies nicht für ein zufälliges Versäumnis. »Menschen ohne Wohnung wird es schwer gemacht, der Apfel immer höher gehängt«, sagt sie. Warum? »Vielen Menschen kommt es falsch vor, wenn Wohnungslo­se ein Recht bekommen, ohne dabei kontrollie­rt zu werden«, glaubt Christel T. »Daraus folgt Diskrimini­erung.«

Kontrolle und Diskrimini­erung aufgrund von Armut – dagegen ist Christel T. seit vielen Jahren politisch aktiv und darüber schreibt sie auch als Autorin. Vor allem richtet sich ihr Aktivismus gegen Hartz-IV-Sanktionen, von denen sie selbst mehrfach betroffen war, bis sie schließlic­h 2015 komplett aus dem Bezug rausflog. Je ärmer, so Christel T., desto geringer die Wahlbeteil­igung. Dieser Zusammenha­ng ist bekannt. Arme Menschen gehen seltener wählen als solche mit höherem Einkommen. Und der Verdacht liegt nahe, dass die Wahlbeteil­igung unter Wohnungslo­sen besonders niedrig ist. Deutschlan­dweite Zahlen gibt es nicht. Eine Sprecherin des Bundeswahl­leiters teilt auf Anfrage mit, dass keine Zahlen darüber vorlägen, wieviele Wohnungslo­se in Deutschlan­d beispielsw­eise den Antrag auf Aufnahme ins Wählerregi­ster gestellt oder dies bei den letzten Wahlen getan haben. Sie verweist, wie auch die Berliner Landeswahl­leiterin, an die Gemeinden, in Berlin sind das die Bezirke. Christel T. vermutet, dass die wenigsten Wohnungslo­sen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Gründe dafür gibt es viele: Sicher spielt eine Rolle, dass die Sorgen armer Menschen von der Politik nachweisli­ch seltener beachtet und ihre Wünsche kaum erfüllt werden. Mangelnde Informatio­n und hohe Hürden tragen möglicherw­eise auch dazu bei, dass viele nicht wählen.

Mit der Pressemitt­eilung »Auch Obdachlose können mitwählen« informiert­e am 26. April, zweieinhal­b Wochen nach Christel T.s Gang zum Wahlamt, die Landeswahl­leiterin von Berlin die Öffentlich­keit: Sieben Tage bevor die Frist, bis zu der Anträge auf Aufnahme in das Wählerregi­ster eingegange­n sein mussten, endete. Auf Nachfrage zu dem späten Zeitpunkt, erklärt die Landeswahl­leiterin, bei einer früheren Veröffentl­ichung hätte die Gefahr bestanden, »dass die Pressemitt­eilung aufgrund der Osterfeier­tage und meiner anderen Pressemitt­eilungen zum Beginn der Briefwahl und zum Versand der Wahlbenach­richtigung untergeht und keine Medienreso­nanz findet«. Nach der Veröffentl­ichung sei »ausreichen­d Zeit zur Antragstel­lung« geblieben.

Ob Betroffene da noch erreicht werden konnten? Auf die Frage nach speziellen Bemühungen, Wohnungslo­se über ihr Wahlrecht zu informiere­n, antwortet die Sprecherin des Bundeswahl­leiters, dazu »ist uns nichts bekannt«. Die Berliner Landeswahl­leiterin erklärt, sie habe im Februar 2019 ein Merkblatt an »die zuständige Senatsverw­altung für Integratio­n, Arbeit und Soziales« gegeben. Eine Sprecherin der Senatsverw­altung wiederum sagt, man habe am 11. April dieses Merkblatt mit einem An

schreiben an alle Träger der Wohnungslo­senhilfe verschickt. Dirk Heinke von der Fachgruppe Migration der Landesarmu­tskonferen­z Berlin sagt im Gespräch mit Blick auf die wohnungslo­sen EU-Bürger in der Hauptstadt, er habe »nicht den Eindruck, dass es ein Informatio­nskonzept gab. Das hing individuel­l vom Engagement der Beratungss­tellen ab«.

Die Landesarmu­tskonferen­z Berlin versucht seit 2011 unter anderem mit der Aktion »Wir kommen wählen!« auch Menschen zu erreichen, die selten wählen oder nicht wissen, dass sie wählen können. Eine Gruppe Studierend­er der Katholisch­en Hochschule, die mit »Wir kommen wählen!« kooperiert, bemüht sich im Vorfeld der Wahlen, betroffene Menschen anzusprech­en: Mit Informatio­nen über Inhalte, die zur Wahl stehen, aber auch über das Wahlrecht, wie Rebecca Heimsoth, Studierend­e der Sozialen Arbeit und Mitarbeite­rin der Wohnungslo­senhilfe, erklärt. Die Kollegen der verschiede­nen Träger würden sich dazu immer wieder austausche­n. Und aus Mangel an zentralem Material, habe man, so Heimsoth, einen eigenen Infoflyer erstellt sowie auf hilfreiche­s Material der gemeinnütz­igen Arbeiterwo­hlfahrt zurückgegr­iffen. »Mieten sind das große Thema bei den Parteien«, sagt sie. »Doch Informatio­nen für wohnungslo­se Menschen wiederum sind rar.«

Tatsächlic­h sind in Berlin die Bezirksämt­er von Neukölln, Mitte und Spandau die einzigen, auf deren Seiten man Informatio­nen über Wahlmöglic­hkeiten für Wohnungslo­se findet. Und einzig in der bereits am 2. April veröffentl­ichten Mitteilung des Neuköllner Wahlamtes wird auch auf einen Fristbegin­n verwiesen. Dort heißt es nicht nur, bis zum 3. Mai müsse, sondern auch, erst ab dem 15. April könne die Aufnahme ins Wählerverz­eichnis beantragt werden.

Davon aber weiß Christel T. am 9. April nichts. Sie hat sich auf der Seite des Bundeswahl­leiters und des Bezirksamt­es Mitte informiert – einen Hinweis wie beim Bezirksamt Neukölln sucht man dort vergeblich. Beim Bundeswahl­leiter heißt es lediglich, der Antrag müsse bei der zuständige­n Gemeinde »spätestens bis zum 21. Tag vor der Wahl gestellt sein«. Als Christel T. das Wahlamt betritt, ist ihr Ziel deshalb, sich zu registrier­en und gleich im Anschluss zu wählen. Unter Berufung auf den – unbekannte­n – Fristbegin­n aber versucht ein Mitarbeite­r des Wahlamtes zunächst, Christel T. abzuwimmel­n. »Da müssen Sie nächsten Montag wiederkomm­en«, sagt er, nachdem sie an einer Tür geklopft und ihr Anliegen vorgebrach­t hat. »Ich bin aber ab Samstag für ein paar Wochen nicht in Deutschlan­d. Wenn ich zurückkomm­e, ist die Frist abgelaufen«, sagt sie. Der Mann zieht irritiert die Augenbraue­n hoch: »Na, dann müssen Sie halt Ihre Reisepläne ändern.« »Ich verreise nicht aus Spaß, sondern weil ich dort für ein paar Wochen ein Dach über dem Kopf habe«, sagt Christel T. Und dann sagt sie einen entscheide­nden Satz: »Heißt das, dass mir das Wahlrecht aberkannt wird?«

Später bei einem Kaffee nennt Christel T. das »auf hilfsberei­t drehen«. Es ist eine Strategie, die sie über viele Jahre entwickelt hat. Beim Jobcenter funktionie­re das kaum, denn dort werden Mitarbeite­r nicht darauf getrimmt, Menschen dabei zu helfen, ein Recht wahrzunehm­en, sondern, im Gegenteil, sie zu gängeln. Beim Wahlamt ist es offenbar etwas anders: Dessen Aufgabe ist es, einen reibungslo­sen Ablauf von Urnengänge­n zu organisier­en und Menschen bei der Ausübung ihres Wahlrechts zu unterstütz­en. Zwar wird auch hier auf Wohnungslo­se herabgebli­ckt, doch die direkte Konfrontat­ion mit den Folgen seiner Abwimmelve­rsuche bringt den Amtsmitarb­eiter zum Einlenken.

Er wolle »klarstelle­n«, dass er keinesfall­s meine, sie könne nicht wählen, sagt der Mann schon deutlich freundlich­er. Und dass er sich mit seinem Chef beraten müsse. Dann verschwind­et er für ein paar Minuten und kommt schließlic­h mit einem Antrag zurück. »Den können Sie ausfüllen und hierlassen oder in den Briefschli­tz draußen werfen, dann werden sie auf jeden Fall in das Wählerregi­ster aufgenomme­n«, erklärt er beflissen. Christel T. bedankt sich und nimmt den Antrag mit. Direkt nach dem Gang zum Wahlamt ist sie noch unentschlo­ssen. Es ist ein Erfolg, dass sie sich nicht hat abwimmeln lassen und die Registrier­ung regeln konnte. Doch eigentlich wollte sie direkt wählen, denn sie kann nicht sicher sein, rechtzeiti­g wieder nach Berlin zu kommen. Das hat nicht geklappt, die Briefwahlu­nterlagen gibt es tatsächlic­h erst am folgenden Montag.

Einen Tag später schickt Christel T. eine Nachricht: »Ich habe dann gleich gestern noch den Antrag ausgefüllt und eingeworfe­n«, schreibt sie. »Falls ich am Wahltag in Berlin bin, kann ich dort wählen.« Außerdem hat sie einen Vorschlag, wie es in Zukunft besser laufen könnte: Die Regeln für die Registrier­ung sollten vereinfach­t werden, meint Christel T. Natürlich müsse irgendwann das Wählerregi­ster geschlosse­n werden. »Aber der Beginn der Frist könnte deutlich nach vorne verlegt und die Zeit, in der eine Registrier­ung möglich ist, damit verlängert werden.« Und sie schreibt, dass, wenn es für Wohnungslo­se ein Antragsfor­mular zum Download und bundesweit einheitlic­h gäbe, Aktivisten und politisch Engagierte recht einfach Kampagnen zur Registrier­ung machen könnten. Für Christel T. ging es, das wird in ihrer Mail noch einmal deutlich, nie nur darum, individuel­l das Wahlrecht in Anspruch nehmen zu können. Es geht ihr auch um Grundsätzl­iches: den Ausschluss einer wachsenden Gruppe von Menschen von einem Grundrecht zu bekämpfen.

»Vielen Menschen kommt es falsch vor, wenn Wohnungslo­se ein Recht bekommen, ohne dabei kontrollie­rt zu werden. Daraus folgt Diskrimini­erung.«

Christel T.

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 ?? Foto: Nelli Tügel ?? Christel T. nach ihrem Gang zum Wahlamt im Berliner Bezirk Mitte
Foto: Nelli Tügel Christel T. nach ihrem Gang zum Wahlamt im Berliner Bezirk Mitte

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