Eine Stimme für deine Kaste
Im indischen Parlament sind 84 Sitze für Dalit-Vertreter reserviert
900 Millionen Inder*innen sind bis zum 19. Mai zur Wahl aufgerufen. Etwa ein Fünftel von ihnen zählt zu den Dalit, den Unterdrückten. Zum sechsten Wahltag ein Blick auf die Kastenlosen.
Die blauen Fahnen mit dem weißen Rad sind das sichtbarste Markenzeichen der Dalit-Parteien, die im indischen Wahlkampf auftauchen. Auf den Wahlkampfveranstaltungen sind sie oft in der Gesellschaft der großen politischen Mainstream-Parteien zu sehen, denn keine dieser Kundgebungen ist ohne sie vollständig.
Von den 900 Millionen Wahlberechtigten machen sie etwa 20 Prozent aus. Auch bei den Parlamentswahlen haben sie eine besondere Rolle. Von 543 Parlamentssitzen des Unterhauses sind 84 für Vertreter*innen der »Scheduled Caste« (»Gelistete Kasten«), wie Dalit-Angehörige auch genannt werden, vorbehalten. Durch die fortschreitende Modernisierung verliert das Kastensystem in Indien zwar an Bedeutung, besonders in den Großstädten. Dennoch leiden etwa 200 Millionen Dalits immer noch unter der hierarchischen Gesellschaft, vor allem in den ländlichen Regionen.
Seit der Gründung Indiens spekulieren politische Parteien auf Dalits als Wählerbasis, die sie mit Wahlversprechen locken. »Doch heute betrachten viele Dalit regionale Parteien als ihre eigenen. Ihre Entstehung hat das politische Bewusstsein der Dalit-Gemeinschaft verändert«, sagt Poonam Tushamad von der »All India Dalit Writers Association«, einer Vereinigung von Dalit-Schriftsteller*innen aus ganz Indien. Dennoch ist es für sie schwer, eine Lobby zu formen, da »Dalit« eine Sammelbezeichnung von vielen verschiedenen Gemeinschaften, die Hindus, Buddhisten, Muslime und Christen umfasst.
In Indiens Mehrheitswahlsystem haben Dalit-Parteien in den Parlamentswahlen deshalb nur geringe Chancen, ihre Vertreter*innen in die Hauptstadt Delhi zu schicken. Die 84 reservierten Sitze gehen mehrheitlich an Dalit-Politiker*innen, die den großen Volksparteien BJP oder Kongress beigetreten sind. Dazu gehört zum Beispiel der Politiker Udit Raj, der kürzlich von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) zur linksliberalen Kongresspartei wechselte, um erneut von Delhi aus zu kandidieren.
In Pramod Nanawares Wahlkreis in Süd-Mumbai spielt ein Dalit-Vertreter keine Rolle. Hier herrscht ein Kampf zwischen der pro-hinduistischen Regionalpartei Shiv Sena und der Kongresspartei. Zur Wahl ist er mit seiner Familie trotzdem gegangen. »Die einzig wichtige Person für uns ist der indische Verfassungsstifter B. R. Ambedkar«, sagt der 23-jährige Student, der einer Hindu-Gemeinschaft angehört, die als Schuster bekannt sind und damit als Dalit gelten. Auf andere bekannte Politiker*innen wie die Dalit-Führerin Mayawati aus Nordindien, dem amtierenden indischen Präsident Nath Kovind oder den politisch-aktiven Großenkels Ambedkar gibt er nichts.
Über eine Reservierungsquote für sozial Benachteiligte hat Nanaware einen Studienplatz in Ingenieurwissenschaften bekommen. Er gehört zu den sozialen Aufsteigern, welche durch die Quotenregelung ermöglicht werden, die ebenfalls für Beschäftigung im öffentlichen Dienst oder in der Politik gilt. In seiner Siedlung leben Menschen verschiedener Herkunft. »Ich weiß nicht, wie das Leben in den 1990ern war, aber wir überwinden das soziale Stigma«, sagt er. Nanaware weiß aber auch, dass andernorts Kastenlosen noch immer der Zugang zu Brunnen oder bestimmten Tempeln verwehrt wird. In Mumbai sei das aber nicht der Fall.
»Eine Studie, die vor ein paar Jahren durchgeführt wurde, zeigt, das immer noch 25 Prozent der Bevölkerung glaubt, dass es Menschen gibt, die unantastbar sind«, so Professor Jaydev Dole von der Universität von Aurangabad. Das ist für ihn eine Bestätigung, dass diese Reservierungen weiterhin nötig sind. Denn für manche gelten Menschen aus unteren Kasten oder Kastenlose als »unrein« und werden aufgrund dessen ausgegrenzt. Auch wenn nach dem Artikel 17 der indischen Verfassung die Unberührbarkeit abgeschafft ist.
Durch die Verbesserung der ökonomischen Situation hat sich das Selbstbewusstsein gesteigert, sagt Poonam Tushamad vom Verband der Dalit-Schriftsteller*innen. Auch sie spürt die politische Aufwertung der Hindu-Ideologie, die zu zunehmenden Gewalttaten gegenüber Dalits führt. Somit werden Menschen wie Prakash Ambedkar oder Mayawati weiter für Interessenspolitik einstehen. Und solange Menschen von der Politik vergessen werden, werden sie Zuwachs finden und mit ihren blauen Fahnen in den Wahlkampf ziehen.