Das war der Super-GAU
Im Fünfteiler »Chernobyl« zeichnet HBO ein ziviles Desaster nach
Wer sich an den 26. April 1986 erinnert, dürfte je nach Wohnort ein völlig eigenes Bild vom Super-GAU in Tschernobyl haben. Während er östlich der Elbe allenfalls inoffiziell ein Thema war, herrschte weiter westlich medial geschürte Hysterie am Rande der Panik. Katastrophe ist halt nicht gleich Katastrophe; es kommt auch auf ihre Präsenz im öffentlichen Bewusstsein an. Während die Welt etwa mangels Kommunikationsmitteln vom global spürbaren Ausbruch des Krakataus 1883 erst Monate später erfahren hatte, blieb das nukleare Desaster 103 Jahre später ganz woanders hängen. Im Kalten Krieg.
Wie damals üblich, durfte ja nicht sein, was die Überlegenheit des jeweiligen Systems infrage stellt. Und so hält sich ein fabelhafter HBOFünfteiler übers folgenreichste Desaster der menschlichen Zivilisation nur am Rande mit der Explosion im Reaktorblock 4 des Wladimir I. Lenin Kernkraftwerks nahe der Industriestadt Prypjat auf. Es geht um die Katastrophe nach der Katastrophe. Ein fatales Gemisch aus Vertuschung und Ignoranz, Nepotismus und Machtkalkül, das weite Teile Europas seinerzeit beinahe zur unbewohnbaren Nuklearwüste gemacht hätte.
Denn während Tausende schutzloser Hilfskräfte noch das Fegefeuer im Atomkraftwerk bekämpfen, einigt sich die verantwortliche Nomenklatura in »Chernobyl« aus sicherer Distanz darauf, eigentlich sei ja gar nichts los. Wie ihre Arbeiter auf dem Werksgelände währenddessen vergebens Geigerzähler suchen, wie Anwohner beim Wodka im Fallout übers Farbenspiel am Horizont rätseln, wie bereits in dessen Lichtschein die Verdrängungskampagne der Schuldigen beginnt – im Stile eines apokalypti
schen Gemäldes von Hieronymus Bosch macht Regisseur Johan Renck (Buch: Craig Mazin) aus dem machtpolitischen Zynismus jener Tage ein Kammerspiel, dessen Hauptfiguren ebenso gut wie glaubhaft besetzt sind.
Allen voran Jared Harris als Valery Legasow, der als Leiter des Kurschatow-Institus für die Liquidierung des toxischen Meilers zuständig war. Im Ringen mit dem Parteifunktionär Boris Shcherbina (Stellan Skarsgård) versucht er das Schlimmste zu verhindern. Er scheitert daran so unvermeidbar, dass sich der vergebliche Mahner gleich zu Beginn der Serie auf Sky das Leben nimmt. Im Kampf mit der Vertuschungsfront im Kreml stand ihm schließlich nur die Atomwissenschaftlerin Ulyana Khomyuk (Emily Watson) zur Seite. Dramaturgisch flankiert von ein paar Einzelschicksalsgeschichten liefern sie sich in den folgenden fünf Stunden ein episches Tauziehen um Klarsicht und Kalkül einer Staatspartei, die selbst ihr neuer Generalsekretär Michail Gorbatschow (David Dencik) noch nicht kleinkriegt.
Die hornbrillenbewehrte Selbstgerechtigkeit jedoch, mit der ein greiser Funktionär unterm Applaus willfähriger Genossen um Zutrauen in Staat, Partei, Sozialismus bittet und Kontaktsperre, Desinformation, Zusammenhalt fordert, während zugleich die Feuerwehrleute verrecken, soll das Publikum allerdings auch ein wenig in Sicherheit wiegen. Alles ist ja weit weg – zeitlich, politisch, geografisch. Am Ende aber war Tschernobyl nur Abbild unserer Gegenwart, die in eine ähnlich vermeidbare Katastrophe rast: den Klimawandel. Dass die Fiktionalisierung am gespenstisch authentischen Drehort des verlassenen Schwesterkraftwerks Ignalina in Litauen trotzdem kein Zeigefinger-Historytainment geworden ist, sondern klug und fesselnd, liegt ausnahmsweise weder an Ausstattung noch Erzählung allein. Die Absurdität dieser größten aller Zivilkatastrophen trägt das Drehbuch bereits tief in sich.
Sky, ab 14. Mai, 20.15 Uhr