Washingtons Mann in Caracas
USA setzt beim Regime Change auf Juan Guaidó – aber nicht nur.
Die konservativ orientierten Kräfte Lateinamerikas haben die von den MitteLinks-Regierungen geschaffenen Integrationsprojekte zerstört und auf kontinentaler Ebene die eigene Front geschlossen.
Soziale Fortschritte, nationale Unabhängigkeit, Multipolarität – die USA versuchen massiv, die Ergebnisse der lateinamerikanischen Mitte-Links-Regierungen zu demontieren. Nicht nur in Venezuela.
Lateinamerika befindet sich an einer Weggabelung seiner Geschichte, an dem es zu bedeutenden strukturellen Veränderungen kommen wird. Deren Folgen können die destruktive Zeit der Militärdiktaturen und der neoliberalen Politik noch übertreffen. Ein neues zivilisatorisches Projekt, eingeleitet durch die Veränderungen in Venezuela nach dem Wahlsieg von Hugo Chávez 1998 und das Entstehen weiterer Mitte-Links-Regierungen, besaß nicht ausreichend Kraft, sich durchzusetzen. Lateinamerika durchlebt im Zusammenhang mit globalen geostrategischen Veränderungen eine neokonservative Offensive, die von wesentlichen Teilen der traditionellen Eliten des Kontinents getragen und forciert wird und die deren Kapitalinteressen und denen des internationalen Kapitals entsprechen.
Errungenschaften der Mitte-LinksRegierungen wie soziale Fortschritte, nationale Unabhängigkeit, Fortschritte in der lateinamerikanischen Integration, die Politik der Multipolarität werden mehr denn je in Frage gestellt. Mit dem Amtsantritt von Donald Trump wird eine Umorientierung der US-Politik gegenüber Lateinamerika sichtbar, die mit Unterstützung rechtsregierter Länder ideologische, politische und wirtschaftliche Dominanz zurückerobern will. Zielobjekte sind Länder, die sich nicht der US-Vorherrschaft beugen wollen.
Seit dem Wahlsieg Mauricio Macris im November 2015 regiert in Argentinien erstmals seit 70 Jahren wieder ein liberal-konservativer Präsident, der nicht aus dem peronistischen Lager kommt. Macris Partei »Cambiemos« (»Auf zum Wandel«) erklärte sich als »Kraft der Mitte«. Heraus kam eine offen neoliberale Politik, die bis jetzt in eine Arbeitslosenquote von zehn Prozent und einer zu einem Drittel verarmten Bevölkerung in einer Krise mündete. Dabei halten Macri noch die vom Internationalen Währungsfonds gewährten Kredite über Wasser.
Rückkehr zum Neoliberalismus
Dieser politischen Wende in Argentinien folgte in Brasilien der Wahlsieg des rechten, fundamental religiös orientierten ehemaligen Hauptmanns der Armee Jair Bolsonaro. Laut Bolsonaro muss sich »Brasilien von der globalistischen Ideologie befreien, im Geist Jesus Christus den Kampf gegen den Globalismus führen, dessen einziges Ziel darin besteht, Mensch und Gott zu entfremden«. Konkret heißt das: Kampf gegen Venezuela und gegen das »maoistische China, das die Welt beherrschen will«.
Die ersten 100 Tage der Regierung Bolsonaros verdeutlichen die Gefahr, dass in Brasilen ein autoritäres und antidemokratisches System etabliert und eine außenpolitische Hinwendung zu den USA vorgenommen wird, wie sie auch Macri realisierte. Der seit 2017 in Ecuador regierende Präsident Lenín Moreno beugte sich dem Druck der alten Eliten und leitete sukzessiv eine politische Kehrtwende ein, die außenpolitisch in einer Annäherung an die USA und innenpolitisch in einer Rückkehr zur neoliberalen Politik bestand.
In Kolumbien siegte im Mai 2018 der Kandidat der Rechten Iván Duque, der im Unterschied zu seinem Vorgänger den Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla im Wesentlichen ignoriert und sich außenpolitisch auf den US-Präsidenten Trump orientiert. Konservativ-neoliberale Präsidenten bestimmen in Chile, Paraguay und Peru die Politik.
Länder wie Mexiko, wo seit 2018 ein progressiver Präsident amtiert, oder Bolivien, wo Präsident Evo Morales eine weitere Amtszeit anstrebt, werden es schwer haben, ihre Politik umzusetzen. Offene Gegnerschaft kündigen Präsident Trump und seine Hardliner gegenüber Kuba und Nicaragua an. Nicht nur, dass Kuba seit über 50 Jahren vom US-Embargo betroffen ist – nun will Trump das Kapitel III des Helms-Burton-Gesetzes in Kraft setzen, das Drittländer betrifft, die mit Kuba wirtschaftliche Beziehungen unterhalten. Trump drohte, die Verschärfung des Embargos durchzusetzen, wenn Kuba nicht seine Truppen aus Venezuela abzieht. Kuba, das entschlossen seine Unabhängigkeit verteidigt und seinen Weg zum Sozialismus sucht, ist direkt von den US-Sanktionen gegen Venezuela betroffen, da venezolanische Erdölimporte nur noch eingeschränkt realisiert werden können.
Mit der Lima-Gruppe (Brasilien, Argentinien, Kolumbien, Peru, Chile, Paraguay) wurde 2017 ein Format geschaffen, das nicht nur eine Vereinigung der neuen Konservativen repräsentiert, sondern das sich aktiv in die Auseinandersetzung mit Venezuela einschaltet. Die 2011 gegründete CELAC (Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten), in der Kuba vertreten ist (nicht aber die USA und Kanada), existiert nur noch formal. Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Peru und Paraguay verließen die 2008 gegründete UNASUR (Union der Nationen des Südens).
Aufforderung aus Washington
Die seit 2011 existierende Alianza del Pacífico (Pazifische Allianz), die das neoliberale Gegenstück zur UNASUR darstellte, ging in der Lima-Gruppe auf, aus der sich im März 2019 in Santiago de Chile das »Foro para el Progreso del Sur« (Forum für den Fortschritt des Südens), die PROSUR, formierte, das sich die politische Isolierung Venezuelas zum wesentlichen Ziel setzt. Damit haben die konservativ orientierten Kräfte Lateinamerikas die von den Mitte-Links-Regierungen geschaffenen Integrationsprojekte zerstört und auf kontinentaler Ebene die eigene Front geschlossen.
Die Rebellion, die der selbsternannte venezolanische Präsident Juan Guaidó gemeinsam mit seinem kürzlich aus dem Hausarrest befreiten Partner Leopoldo López am Morgen des 30. April ausrief, war eine mit USA abgesprochene Aktion namens »Operation Befreiung«. Der US-Sekretär für Nationale Sicherheit John Bolton erklärte öffentlich, dass sowohl der venezolanische Verteidigungsminister Vladimir Padrino wie auch der Oberste Staatsanwalt Maikel Moreno und der Kommandant der Nationalgarde Rafael Hernández Dala beteiligt sind und Präsident Nicolás Maduro ablösen wollen.
Der von Bolton als Verbündeter bezeichnete Verteidigungsminister Padrino erklärte am Mittag des gleichen Tages im venezolanischen Fernsehen, dass die Rebellion, die Guaidó ausgerufen hatte, gescheitert ist. López zog sich zu seinem persönlichen Schutz in die spanische Botschaft zurück und Guaidó musste eingestehen, dass die »Operation Befreiung« – ein weiterer Versuch, auf gewaltsamen Wege eine Entscheidung im Machtkampf mit Maduro herbeizuführen – ergebnislos endete. Der britische »Guardian« schlussfolgerte, dass diese Aktion voreilig gestartet wurde und ihr die Massenunterstützung fehlte.
Der selbsternannte Präsident Guaidó ist Abgeordneter der rechten Partei »Voluntad Popular« (Volkswille) in der Nationalversammlung, die von Präsident Maduro faktisch über die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung (ANC) ausgeschaltet wurde. Als Person bis dahin öffentlich kaum bekannt, ernannte er sich am 23. Januar zum Präsidenten Venezuelas. Das US-amerikanische »Wall Street Journal« schrieb, Guaidó habe diesen Schritt unternommen, nachdem US-Vizepräsident Mike Pence ihn telefonisch dazu aufforderte. Guaidó überraschte damit andere Oppositionsparteien, die nicht informiert waren.
Im Oktober 2005 hatte Guaidó in Serbien an einem Trainingskurs des Zentrums für angewandte friedliche Aktionen und Strategien (CANVAS) teilgenommen. Das CANVAS wird von der Nationalen Stiftung zur Förderung der Demokratie (NED) finanziert und gehört zu den US-Organisationen, die oppositionelle Kräfte ausbilden. Guaidó absolvierte ein Managementprogramm an der George Washington University und arbeitete für Radio Caracas Television, das eine wesentliche Rolle während des Putsches 2002 gegen Präsident Chávez spielte.
Das Ziel heißt Regimewechsel
Daraus entwickelte sich die Gruppe Generation 2007, die als Organisator der Straßenproteste agierte, wie Guaidó es bei CANVAS gelernt hatte. Er trat der von Leopoldo López, einem Vertreter der venezolanischen Aristokratie, gegründeten Voluntad Popular bei. Über die USAID (US-Agentur für Internationale Zusammenarbeit) und die NED erhielt diese Oppositionsgruppe 40 bis 50 Millionen US-Dollar. Gemeinsam mit dem Voluntad-Popular-Gründer López beteiligte sich Guaidó aktiv an den gewaltsamen Straßenprotesten 2014.
Guaidó sprach sich wiederholt für eine militärische Intervention der USA in Venezuela aus. US-amerikanische Quellen bezeichnen Guaidó als von der CIA langjährig aufgebauten Politiker. Das erklärt auch, dass Guaidó während einer Reise nach Brasilien, Argentinien, Ecuador und Paraguay im März 2019 von Kimberly Breier, seit 2018 stellvertretende Sekretärin der USA für die Angelegenheiten der Westhemisphäre, begleitet wurde. Breier bildete zukünftige Mitarbeiter für die CIA aus; auch Guaidó nahm an solchen Kursen teil.
Im Dezember 2018 unternahm Guaidó nach Informationen der Nachrichtenagentur AP eine geheime Reise in die USA, nach Kolumbien und Brasilien und verabredete eine Strategie zur Vorbereitung von Massendemonstrationen zum 10. Januar 2019, dem Tag der Vereidigung Maduros vor dem Obersten Gerichtshof Venezuelas. Wie Fernando Cutz, ehemaliger Sicherheitsexperte von Trump und Obama, äußerte, unterstützt US-Präsident Trump diese Strategie und anerkannte Guaidó als Präsidenten nach dessen Selbsternennung.
Die politische Zielsetzung Guaidós besteht nicht in der Stabilisierung der Verhältnisse in Venezuela oder in einem Dialog mit der Gegenseite, sondern in der Destabilisierung der Lage und der Herbeiführung eines Regimewechsels, unterstützt von der Lima-Gruppe (nun PROSUR) und den USA. Nach und nach setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Regimewechsel trotz vielfältiger Versuche (»humanitäre Hilfe«, Verstärkung des Sanktionssystems seitens der USA) nicht schnell realisiert werden konnte. Damit verliert Guaidó besonders unter den oppositionellen Kräften an Zustimmung. Hinzu kommt, dass es neben den 50 Staaten, die Guaidó als Präsidenten anerkannten, auch andere Staaten gibt, die sich neutral verhalten oder sich für eine friedliche Lösung des Konfliktes einsetzen.
Nicht zu übersehen ist, dass Teile der Bevölkerung die Regierung Maduros aus verschiedensten Gründen unterstützen. Sie meinen, dass viel verloren werden kann, aber unklar ist, was Guaidó der Bevölkerung bieten kann. Die Gegensätze zwischen der Regierung Maduro und Guaidó sind – wie es scheint – gegenwärtig unauflösbar, was bedeutet, dass der Konflikt in einem Bürgerkrieg enden kann. Eine inzwischen existierende Bürgerplattform zur Verteidigung der Verfassung sucht einen Ausweg durch internationale Vermittlung, da sowohl die UNO wie auch die Regierungen Mexikos und Uruguays zu Vermittlungsgesprächen bereit sind.