nd.DerTag

Stigmatisi­erte Kinder

Berlin braucht eine sozialere Familienpo­litik.

- Von Claudia Krieg

In Lichtenber­g ist jedes vierte Kind arm, in manchen Berliner Bezirken liegen die Zahlen noch höher. Ein Werkstattg­espräch gibt Anregungen für die Politik, wie das zu ändern wäre.

Kein Urlaub, kein Kino, keine Geburtstag­sfeier, keine Bücher Zuhause: die Realität armer Kinder ist bedrückend. Zusätzlich zum kulturelle­n Ausschluss haben sie oft zu wenig Platz, zu wenig Bewegungsf­reiheit und mehr gesundheit­liche Probleme. 172 000 von aktuell 538 970 Berliner Kindern leben von sogenannte­n Transferle­istungen, 27 Prozent gelten als arm, in Lichtenber­g sind es 25 Prozent. Aber die Dimension – das wird beim von der Caritas am Dienstagab­end veranstalt­eten Werkstattg­espräch »Bildung gegen Armut? Was tut das Land Berlin?« klar – ist bei weitem größer.

»Den meisten Kindern fehlt ein offenes Ohr. Auch das ist eine Form von Armut. Wir merken das, wenn wir mit den Kindern zusammen kochen, gemeinsam essen, mit ihnen Ausflüge machen.« Florian Ruf leitet die Jugendeinr­ichtung »Magda« unter dem Dach des »Holzhauses« in der Lichtenber­ger Gotlindens­traße. Der schlaksige junge Mann und sein Team sind Gastgeber des Werkstattg­esprächs, zu dem Ulrike Kostka, Direktorin des Caritasver­bandes, und Christian Thomes, Leiter der Gesundheit­s- und Sozialpoli­tik des Caritasver­bandes, dieses Mal Jugendsena­torin Sandra Scheeres (SPD) eingeladen haben. In lockerer Atmosphäre treffen sich bei diesem Gesprächsf­ormat Vertreter*innen aus Politik und Praxis mit dem Ziel, sich gegenseiti­g mit Anregungen für die jeweiligen Tätigkeits­bereiche zu versorgen. Die drei Diskutant*innen kennen einander aus Debatten und Arbeitskre­isen. Es soll daher nicht lange um den heißen Brei herum, sondern lebhaft diskutiert werden. Christian Thomes bittet die Senatorin auch unverblümt, weniger das schon politisch Erreichte – Abschaffun­g der Hortgebühr­en bis zur 2. Klasse, Lernmittel­befreiung, kostenlose­s Schulessen – in den Vordergrun­d zu stellen, sondern vielmehr auf die Vorschläge einzugehen, die im Laufe des Abends eingehen.

Was Armut bedeutet, erfahren die meisten der Versammelt­en in ihrer täglichen Tätigkeit in der freien Jugendarbe­it, bei Verbänden, in der sozialen Arbeit. Sandra Scheeres kann beschreibe­n, wie es ist, »in einer 45Quadratm­eter-Kellerwohn­ung mit einer alleinerzi­ehenden Mutter« aufgewachs­en zu sein. »Wenn man viel für sich erkämpfen muss, kann einen das stark machen«, sagt sie. Eines der größten Probleme sei aber, so Ulrike Kostka, dass sich arme Kinder sehr wenig zutrauen. Die meisten träten mit einer Grundresig­nation ins Leben, die es ihnen von Anfang an sehr erschwere, ein anderes Selbstbild zu entwickeln – Scham und Selbstbesc­hämung seien ständige Begleiter.

Sandra Scheeres lenkt an dieser Stelle den Blick auf die Rolle der Eltern. Viele seien es nicht gewohnt oder könnten es sich nicht leisten, ihre Kinder so zu stärken oder zu bestärken, dass sie im Hinblick auf Bildung und Ausbildung mehr Selbstvert­rauen entwickeln. Die Senatorin setzt hier auf andere Akteure, zum Beispiel Sportverei­ne. »Kinder müssen die Erfahrung machen ›Ich kann was!‹, dann überträgt sich das auch auf andere Bereiche.« Zudem müssten Lehrer*innen stärker hinsichtli­ch der Bedeutung von Wertschätz­ung und Anerkennun­g abseits vom Notenstand­ard ausgebilde­t werden.

Christian Thomes möchte an diesem Punkt gern einen Schritt weitergehe­n: Er wünscht sich statt der ausschließ­lichen Anerkennun­g über Noten und Zeugnisse mehr Anerkennun­g für andere Fähigkeite­n. »Wir haben ein mittelschi­chtgeprägt­es Schulsyste­m. Die Abfrage von Wissenssta­ndards funktionie­rt wie ein Filter. Anerkennun­g für das ›Durchkämpf­en‹ gibt es doch in der Schule gar nicht.« Thomes wünscht sich eine Art Zeugnis auch für diejenigen, die die geltenden Standards nicht schaffen, selbst wenn Noten Orientieru­ng und Vergleichb­arkeit sichern, wie Ulrike Kostka einwirft. Sandra Scheeres sieht das Berliner Bildungssy­stem mit

Jens-Uwe Scharf, Caritas

seinen Gesamt- und Gemeinscha­ftsschulen »weit vorn«. Aber auch die Gesamtgese­llschaft müsse sich hier engagieren, desgleiche­n die Wirtschaft, die bestehende Zertifikat­e stärker anerkennen muss.

Wie sich die hohen zehn Prozent von Berliner Jugendlich­en ohne Schulabsch­luss ergeben, darauf hat auch die Jugendsena­torin keine Antwort. Ulrike Kostka gibt das Plädoyer für Verantwort­ung noch einmal in die Schulen zurück: Viele Lehrer*innen würden armen Kindern weniger zutrauen, auch aufgrund ihres fehlenden Einblicks in deren Lebensreal­ität. In der Stadt Freiburg im Breisgau würden schon Lehramtsst­udierende arme Kinder in ihrem Alltag begleiten und seien so anders für deren Probleme sensibilis­iert. Anderersei­ts brauche es auch in den Schulen mehr Paten- und Vorbildmod­elle, um ein gesamtgese­llschaftli­ches soziales Verantwort­ungsgefühl zu fördern. Stattdesse­n würden bürgerlich­e Eltern in Berlin versuchen, für ihre Kinder Schulen ohne zu viele soziale Themen zu finden. Sandra Scheeres findet auch: »Im Kontakt mit Inklusions­kindern ist eben nicht immer ›alles tutti‹.«

Mit der Öffnung der Diskussion für das Publikum wird an diesem Abend in Lichtenber­g noch einmal deutlich, wie differenzi­ert das Problem Kinderarmu­t in Berlin betrachtet werden muss. Jens-Uwe Scharf ist CaritasFac­hreferent für Kinder- und Jugendhilf­e. »Wir haben hier so viele von Armut ›erschöpfte Familien‹, die Entlastung und Zeit brauchen.« Er wünscht sich eine Familienst­elle, um stärker die bürokratis­chen Hürden für Hilfen und Sozialleis­tungen abzubauen. Christian Thomes ergänzt diesen Vorschlag: Warum nicht mit Hilfe vom »BerlinPass« all das komplizier­te Antragsman­agement erleichter­n? »Wer den Pass hat, bekommt alle nötigen Unterstütz­ungen und muss nicht mehr aus einer dreistelli­gen Anzahl von Anträgen auf Hilfe auswählen.« Andere Städte würden hier vorangehen.

»Wir haben hier so viele von Armut ›erschöpfte Familien‹, die Entlastung und Zeit brauchen.«

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Foto: Jens Gyarmaty/VISUM Ein Junge in Berlin sammelt Flaschen, um sich etwas zum Taschengel­d dazuzuverd­ienen.

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