nd.DerTag

Zukunftsde­batte

Lässt sich die EU reformiere­n? Ein Streitgesp­räch.

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Das Interesse an den EU-Wahlen hat Umfragen zufolge zugenommen. Ist Europa jetzt wieder sexy?

Lucy Redler: Ein grundlegen­des Problem ist ja, dass Europa und EU miteinande­r verwechsel­t werden. In Europa leben 740 Millionen Menschen, davon aber nur 510 Millionen in der EU. Die EU ist eine Institutio­n, die durch die führenden kapitalist­ischen Staaten Europas dominiert wird. Wenn wir als LINKE Infotische machen, habe ich eigentlich nicht den Eindruck, dass die Europawahl die Leute brennend interessie­rt – im Unterschie­d etwa zum Berliner Volksbegeh­ren »Deutsche Wohnen und Co. Enteignen« oder zu Initiative­n für mehr Personal in der Pflege. Trotzdem gibt es natürlich ein Bedürfnis, sich auszutausc­hen, weil es die berechtigt­e Sorge gibt, dass die Rechtspopu­listen und Rassisten immer stärker werden. Aber dass die EU darauf die Antwort ist, glaube ich nicht.

Silvan Wagenknech­t: Ich beobachte schon, dass Europa, das Thema Europawahl, jetzt mehr zieht, auch, wenn nicht mehr ganz so viele Leute zu Kundgebung­en von Pulse of Europe kommen wie zum Beispiel kurz vor der Präsidents­chaftswahl in Frankreich vor zwei Jahren. Ich denke auch, dass das gewachsene Interesse mit dem Erstarken von Rechtsnati­onalisten zu tun hat. Dagegen wollen die Leute ihre Stimme erheben.

Wie lassen sich denn nationale und europäisch­e Themen im EuropaWahl­kampf praktisch miteinande­r verbinden?

Redler: Es gibt mittlerwei­le viele, die sich beispielsw­eise sowohl gegen steigende Mieten als auch gegen Rassismus und für einen neuen Internatio­nalismus engagieren. Man hat bei der großen »Unteilbar«-Demonstrat­ion im Oktober gesehen, dass die Bewegungen nicht mehr so voneinande­r separiert sind. Ich glaube, das allgemein immer noch geringe Interesse an den Europawahl­en hängt damit zusammen, dass viele Leute wissen, dass das Europäisch­e Parlament so gut wie nichts zu entscheide­n hat. Es hat zum Beispiel kein Initiativr­echt, mit dem es Gesetzesvo­rschläge einbringen kann. Und Lobbyisten, das merken die Leute, haben größeren Einfluss auf die EU-Politik als sie mit ihrer Stimme.

Viele scheinen auf die EU setzen, um einen weiteren Rechtsruck zu verhindern, obwohl sie die grundsätzl­ich als unsozial und militarist­isch ablehnen. Wie geht das zusammen?

Wagenknech­t: Natürlich bringt ein Konstrukt wie die EU Bürokratie und Kompromiss­e mit sich, die nicht befriedige­nd sind. Aber zu sagen, die EU wäre militarist­isch, das ist doch Unfug. Und natürlich ist sie auch nicht per se unsozial. Sie sollte aber wesentlich mehr im Bereich Soziales tun.

Redler: Ich glaube, dass die EU mit ihrer neoliberal­en Politik den Aufstieg rassistisc­her Parteien gefördert hat. Und sie macht selbst eine Politik der Abschottun­g: mit dem Aufbau der Grenzagent­ur Frontex, der Kriminalis­ierung der zivilen Seenotrett­ung, mit dem Türkei-EU-Deal. Und nach innen betreibt sie eine verheerend­e unsoziale Politik beispielsw­eise gegenüber Griechenla­nd. Dort sind die Löhne auf Druck der EU drastisch gesenkt worden, die Erwerbslos­igkeit gerade unter Jugendlich­en ist immer noch extrem hoch.

Trotzdem finde ich es wichtig, linke Kräfte im Europaparl­ament zu stärken. Aber es ist falsch zu glauben, man könne aus dieser EU ein soziales Projekt machen. Sie war nie etwas anderes als ein Vertragswe­rk von kapitalist­ischen Staaten, um ihre wirtschaft­lichen und außenpolit­ischen Interessen durchzuset­zen. Im Vertrag von Lissabon von 2007 ist die Verpflicht­ung festgeschr­ieben, dass es weitere Aufrüstung und eine engere militärisc­he Zusammenar­beit geben soll. Erst im April hat das Europäisch­e Parlament dem 13 Milliarden schweren Europäisch­en Verteidigu­ngsfonds zugestimmt.

Wagenknech­t: Ich störe mich sehr daran, wenn man die EU auf ein Wirtschaft­sprojekt reduziert. Natürlich wurde zuerst die Montanunio­n gegründet, Kohle- und Stahlindus­trien wurden koordinier­t. Aber das hatte auch den Hintergrun­d, dass gerade die Schlüsseli­ndustrien des Krieges zusammenge­legt werden sollten, damit die Völker dieses Kontinents nie wieder die Waffen gegeneinan­der erheben. Das hat die EU zu einem Friedenspr­ojekt gemacht.

Redler: Natürlich ging es auch darum, ein Bollwerk gegen die Sowjetunio­n und den Osten Europas zu schaffen. Sie war vor 1990 quasi ein Projekt der einen Hälfte Europas gegen die andere und als Kind des Kalten Krieges immer eingebunde­n in die NATO. Und es hat sich irgendwann die Einschätzu­ng durchgeset­zt, dass die Interessen des deutschen und des französisc­hen Kapitals besser im Verbund mit weiteren Staaten vertreten werden können. Aber das macht ein imperialis­tisches Projekt noch nicht zu einem Friedenspr­ojekt.

Wagenknech­t: Wie kann man denn von der Europäisch­en Union, dem größten Geldgeber für humanitäre Hilfe in der Welt, von einem imperialis­tischen Projekt reden?

Redler: Wie humanistis­ch ist denn die EU angesichts der Tatsache, dass in Griechenla­nd von 65 allgemeinv­erbindlich­en Tarifvertr­ägen, die es vor der Finanzkris­e gab, 14 übriggebli­eben sind? Wie humanistis­ch ist es, dass 2000 Menschen allein letztes Jahr an den EU-Außengrenz­en gestorben sind?

Ich habe großes Verständni­s für die Hoffnung gerade unter Jugendlich­en, dem Rassismus und Rechtspopu­lismus internatio­nal etwas entgegense­tzen zu können. Aber die Antifaschi­sten um Altiero Spinelli, auf deren Manifest von Ventotene von 1941 sich viele in der LINKEN berufen, meinten ja, die europäisch­e Revolution müsse eine sozialisti­sche sein. Linke sollten nicht die Illusion schüren, dass man die EU im Interesse von Erwerbslos­en und Beschäftig­ten grundlegen­d reformiere­n kann.

Wagenknech­t: Was sollten Linke denn stattdesse­n tun? Können wir uns darauf einigen, dass wir die EU erhalten wollen?

Redler: Ich bin der Meinung, dass die EU Teil des Problems ist. Ich glaube, man muss ein demokratis­ches, soziales, ökologisch­es, ein sozialisti­sches Europa von unten aufbauen. Das kann durch die Stärkung von Gewerkscha­ften, von internatio­nalen Bewegungen und linken Parteien gelingen, aber nicht durch die EU. Die Verträge der EU tragen den Neoliberal­ismus als DNA in sich. Mit dem Fiskalpakt können Staaten sanktionie­rt werden, die die sogenannte­n Maastricht-Kriterien nicht einhalten. Der liberalisi­erte Binnenmark­t ist arbeitnehm­erfeindlic­h und hat zu massiven Privatisie­rungen geführt. Die Europäisch­e Zentralban­k kann nicht demokratis­ch kontrollie­rt werden. Wenn zum Beispiel in einem Mitgliedss­taat eine linke Regierung gebildet würde und diese an den EUVerträge­n etwas grundlegen­d verändern wollte, müsste sie wegen des Einstimmig­keitsprinz­ips auf 27 weitere Staaten warten, die die Verträge gleichzeit­ig ändern wollen. Das ist doch illusorisc­h.

Wagenknech­t: Angesichts des Sterbens im Mittelmeer oder der Lage in Griechenla­nd fällt es auch mir durchaus schwer, die EU als Wertegemei­nschaft vor meinen Freunden oder meiner Familie zu verteidige­n. Aber ich halte trotzdem an der Idee der europäisch­en Einigung fest, weil ich an die Möglichkei­t der Verbesseru­ng der EU glaube. Auch ich halte das Einstimmig­keitsprinz­ip für ein großes Problem. Das müsste man abschaffen. Aber was meinst du, wenn du sagst, die EU sei Teil des Problems? Sollen wir sie etwa auflösen?

Redler: Ich bin für den Aufbau einer internatio­nalistisch­en, sozialisti­schen Alternativ­e zu ihr. Das wird nur durch einen Bruch mit der EU möglich sein, ohne dass ich sage, das ist jetzt der Zeitpunkt, den Austritt Deutschlan­ds aus der EU zu propagiere­n.

Wagenknech­t: Das wäre ja auch Irrsinn. Redler: Politisch ist die grundlegen­de Kritik an der EU aber richtig. Die EU-Politik läuft doch allen Zielen zuwider, die du, wenn ich dich richtig verstehe, vertrittst. Also Frieden, Leben ohne rassistisc­he Diskrimini­erung und Gewalt, soziale Gerechtigk­eit …

Aber auch in der Linksparte­i sagen viele: Wir können die EU ändern, wenn es gelingt, die Mehrheitsv­erhältniss­e zu ändern … Redler: Das stimmt. Die Position der Antikapita­listischen Linken zur EU ist nicht Mehrheitsm­einung in der Partei. Und ich bin natürlich auch für jede Verbesseru­ng innerhalb der EU, solange es sie gibt. Ich habe auf dem LINKE-Europa-Parteitag im Februar das Bild von einem Haus benutzt, das auf schiefem Fundament steht. Solange man gezwungen ist, darin zu wohnen, ist es richtig, Schönheits­reparature­n vorzunehme­n. Ich glaube aber, man sollte nicht die Illusion wecken, dass dieses Haus halten wird.

Wagenknech­t: Natürlich wird das Fundament nicht halten, wenn wir die Sache mit so wenig Mut angehen wie du es tust oder wie es die Rechtspopu­listen tun, die – und in diesem Punkt seid ihr euch anscheinen­d einig – die EU nicht haben wollen.

Redler: Das finde ich ein starkes Stück, wenn du mich mit Rechtspopu­listen in einen Topf wirfst. Ich habe gesagt, dass meine Alternativ­e ein sozialisti­sches Europa, ein europaweit­er Kampf für Verbesseru­ngen ist.

Wagenknech­t: Du bist für ein sozialisti­sches Europa, aber auch für die Abschaffun­g der EU. Und in diesem Punkt bist du dir zum Beispiel mit den britischen Nationalis­ten einig. Ich würde mir Gedanken machen, wenn ich in einer so grundsätzl­ichen Frage mit denen übereinsti­mme …

Redler: Aber es gibt keine Übereinsti­mmung. Die Rechtspopu­listen wollen ein sogenannte­s Europa der Vaterlände­r oder zurück zum Nationalst­aat, und sie wollen die Grenzen dicht machen. Meine Alternativ­e ist eine internatio­nalistisch­e. Ich bin nur nicht der Meinung, dass man die EU in diesem Sinne reformiere­n kann. Das wäre ungefähr so, als würde man glauben, in einem Haifischbe­cken zu

Die LINKE will einen »Neustart« für die Europäisch­e Union. In der Partei bezweifeln aber viele, dass dieses Bündnis mit seiner »neoliberal­en DNA« reformierb­ar sei. Die Bewegung Pulse of Europe dagegen verteidigt die EU als Friedenspr­ojekt und Garanten für sozialen Ausgleich.

»Um in unserem Europa Veränderun­gen hervorzubr­ingen, braucht es keine Revolution, sondern gesetzgebe­rische Mehrheiten und Kompromiss­e. Und das ist eine großartige Errungensc­haft.« Silvan Wagenknech­t, Pulse of Europe »Die wesentlich­en Veränderun­gen finden nicht in den Parlamente­n statt. Wenn dort Reformen beschlosse­n werden, ist das meist Folge von gesellscha­ftlichem Druck.« Lucy Redler, LINKE

einer gerechten Verteilung von Futter kommen zu können. Im Übrigen war es die LINKE, die im April gegen den Ausbau von der Grenzbehör­de Frontex zu einer EU-Agentur mit einem Haushalt von 11,3 Milliarden Euro für den Zeitraum 2021 bis 2027 und 10 000 Beschäftig­ten ab 2027 gestimmt hat.

Ist es von der EU zu viel verlangt, dass sie mehr stemmen soll als das, was die Mitgliedst­aaten machen?

Wagenknech­t: Grundsätzl­ich finde ich schon, dass sie mehr machen sollte. Vor allem das Europäisch­e Parlament ist oft viel progressiv­er als die Parlamente und Regierunge­n der einzelnen Mitgliedst­aaten. Aber es stimmt: Wir stellen an die EU oft zu hohe Ansprüche. Sie ist nicht perfekt, aber wie könnte sie das auch sein nach historisch gesehen so wenigen Jahren, die es sie gibt.

Redler: Die EU kann gar nicht besser sein kann als die Politik der Nationalst­aaten, weil sie diese Nationalst­aaten nicht überwunden hat. Und es wäre ein Trugschlus­s zu denken, dass sich die EU zu den Vereinigte­n Staaten von Europa entwickeln wird. Wenn man sich die letzten Jahrzehnte anschaut, muss man sehen, dass die EU vor allem eine Geschichte von wirtschaft­licher Kooperatio­n, Aufrüstung und Abschottun­g nach außen ist. Kurt Schumacher, der Anfang der 1950er Jahre SPD-Vorsitzend­er war, hat gesagt, die Europäisch­e Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl sei »kapitalist­isch, konservati­v, klerikal und kartellist­isch«. Von »klerikal« abgesehen finde ich, das ist immer noch eine ganz gute Zustandsbe­schreibung für die EU heute. Wagenknech­t: Und doch war es richtig, es zu machen. Denn seit der Zusammenle­gung von Schlüsseli­ndustrien des Krieges haben wir in der Europäisch­en Union nie wieder die Waffen gegeneinan­der erhoben.

Die Rüstungsin­dustrie kann seitdem aber auch Synergieef­fekte der Kooperatio­n viel besser nutzen …

Redler: Das wird ja gerade vertieft: Mit der »Ständigen strukturie­rten Zusammenar­beit« in der EU, Pesco, wird an der Schaffung einer gemeinsame­n Armee und an der Verteidigu­ngsunion gearbeitet. Was ist daran positiv, wenn man gemeinsame

Rüstungs forschungs­projekte auf den Weg bringt, wenn man Krieg gegen Dritte führt?

Wagenknech­t: Es ist doch grundsätzl­ich etwas Gutes, wenn die Staaten über die Rüstungspo­litik nicht mehr für sich allein und gegeneinan­der entscheide­n.

Redler: Unsere Position als Linke sollte doch sein, Rüstung abzuschaff­en. Wir müssen doch dafür eintreten, dass es eine Konversion der Rüstungsin­dustrie bei Arbeitspla­tz garantie gibt, dass sinnvolle Produkte hergestell­t werden.

Wagenknech­t: Das wäre natürlich toll, und davon kann man auch träumen. Aber wir leben nun mal in einer Welt, in der wir Rüstung brauchen.

Die EU könnte die Macht von Waffenhers­tellern begrenzen, ein gestärktes Parlament könnte auf eine Verringeru­ng der Rüstungsko­operation dringen und Auslandsei­nsätze beenden. Wäre das eine Option? Wagenknech­t: Es ist schon friedenssi­chernd, wenn Rüstungsin­dustrien zusammenar­beiten. Es ist besser, als wenn sie gegeneinan­der arbeiten. Und mit kluger Gesetzgebu­ng kann man Auslandsei­nsätze zurückfahr­en und Rüstungsex­porte besser kontrollie­ren.

Redler: Aber im Moment sollen die Hürden für Militärein­sätze eher gesenkt werden. Es soll vereinfach­te Genehmigun­gsverfahre­n geben und man will prüfen, ob der Parlaments­vorbehalt überhaupt noch nötig ist, also das Verfahren, nach dem zum Beispiel in Deutschlan­d der Bundestag Auslandsei­nsätzen der Bundeswehr zustimmen muss und die Regierung das nicht allein entscheide­n kann. Mir wird bange bei der Vorstellun­g, dass das auf europäisch­er Ebene vielleicht bald nicht mehr vom Parlament kontrollie­rt wird.

Wenn die EU-Kommission mal etwas Fortschrit­tliches anstößt, wird das häufig von den Mitgliedss­taaten ausgebrems­t. Bräuchte man also noch mehr Europa, mehr Zentralisi­erung?

Wagenknech­t: Ich bin dafür, dass das einzelne Staaten nicht ganze Projekte boykottier­en können. Und ja, ich fände es gut, wenn wir den europäisch­en Institutio­nen mehr Befugnisse einräumen würden. Besonders das EU-Parlament sollte mehr Rechte be

kommen. Weil es, wie gesagt, oft weiter ist als die Nationalst­aaten, zum Beispiel beim Umweltschu­tz oder beim Datenschut­z.

Redler: Klingt nach Republik Europa. Aber im Kapitalism­us wird das eine Utopie bleiben, weil dieser den Nationalst­aat nicht überwinden will, sondern ihn zum Schutz der Eigentumsv­erhältniss­e braucht. Wenn man eine europäisch­e Einigung will, muss man den Kapitalism­us, den Privatbesi­tz an großen Banken und Konzernen überwinden. Angesichts der Tatsache, dass immer mehr Menschen sich für Kollektivi­erung und andere Formen von Vergesells­chaftung ausspreche­n, könnte man die Debatte über gesellscha­ftliche Alternativ­en ja mal wieder offensiv führen.

Wagenknech­t: Wenn wir so grundsätzl­ich werden: Für mich ist der Sozialismu­s keine Alternativ­e. Er hat noch nie in der Geschichte funktionie­rt und er wird nicht wiederkomm­en.

Redler: Es hat aus meiner Sicht noch keine richtige sozialisti­sche Gesellscha­ft gegeben. Umso wichtiger wäre es zu diskutiere­n, warum es bisher nicht funktionie­rt hat. Sozialismu­s bedeutet nicht nur eine geplante Wirtschaft gemäß den Interessen von Mensch und Natur, sondern auch umfassende Demokratie.

Wagenknech­t: Beschäftig­en wir uns lieber damit, die soziale Marktwirts­chaft grundlegen­d zu verbessern. Sie gehört zu unseren Grundwerte­n, hat uns unfassbare­n Wohlstand, unfassbare individuel­le Freiheit gegeben. Und das gilt es jetzt zu schützen.

Redler: Viele Menschen in Deutschlan­d und anderen Ländern, gerade an der Peripherie, würden wohl nicht unbedingt sagen, dass ihnen die EU Wohlstand gebracht hat.

Wagenknech­t: Ja, leider gibt es auch viele Leute, die von ihr nicht so profitiere­n, wie es einmal verheißen wurde. Aber der Sozialismu­s würde daran auch nichts ändern. Ich finde, hier in Deutschlan­d sollte jeder zur Wahl gehen, einfach, weil er die Freiheit hat, ein politische­s Leben zu führen. Und wenn man nicht hingeht, dann soll man sich auch nicht beschweren, wenn es nicht so läuft, wie man sich das vorstellt.

Redler: Die Idee der deutschen Agenda 2010 wurde ja, unter anderem mit dem Fiskalpakt, auf die EU übertragen. Und bei dem, was an neuen Vorschläge­n, etwa für ein »Reformhilf­eprogramm« der EU, kursiert, geht es um weiteren Druck auf die Staaten, ihre Arbeitsmär­kte zu deregulier­en.

Wenn behauptet wird, es gehe allen durch den EU-Binnenmark­t besser, dann geht das an der Lebensreal­ität von Millionen Menschen vorbei. Da wäre es aus meiner Sicht Aufgabe von Sozialiste­n, gesellscha­ftliche Alternativ­en zu entwickeln. Man müsste doch auch fragen: Funktionie­rt denn der Kapitalism­us überhaupt? Und außerdem: Was versteht man unter Sozialismu­s?

Wagenknech­t: Natürlich ist der Kapitalism­us, wie wir ihn im Moment erleben, nicht so das Wahre. Aber der Werkzeugka­sten der sozialen Marktwirts­chaft bietet uns Möglichkei­ten, ihn zu regulieren und am Wohlstand noch mehr Leute teilhaben zu lassen. Aber ich bin nicht der Meinung, dass wir dafür einen Systemwech­sel herbeiführ­en müssten.

Redler: Also soll es weiter private Großbanken und Konzerne geben?

Wagenknech­t: Das Recht auf Eigentum muss gewährleis­tet bleiben. Aber ich finde auch, dass mit der Befriedigu­ng von Grundbedür­fnissen wie Wohnen, Wasser, Strom keine Profite erzielt werden sollten.

Redler: Also unterschre­ibst du beim Volksbegeh­ren »Deutsche Wohnen und Co. enteignen«?

Wagenknech­t: Ich bin kein Freund davon, weil ich glaube, dass dadurch noch nichts gewonnen wäre. Würden die Leute danach weniger Miete bezahlen? Das ist nicht gesagt. Und es kostet unfassbar viel Geld, obwohl damit keine einzige neue Wohnung entsteht.

Redler: Würde der Volksentsc­heid umgesetzt, müsste sich eine halbe Million Menschen keine Sorgen mehr wegen steigender Mieten machen und die Mieten könnten gesenkt werden. Wie hoch die Kosten wären, ist eine politische Frage der Kräfteverh­ältnisse. Ich zum Beispiel bin nicht der Meinung, dass man Immobilien­konzerne, die Milliarden Gewinne gemacht haben, entschädig­en muss.

Wie erfolgvers­prechend sind eigentlich Initiative­n wie die des linken Bündnisses »DiEM 25«, eine Diskussion über eine neue, soziale EU-Verfassung in Gang zu setzen?

Wagenknech­t: Ich finde diese Idee total mutig. Und diesen Mut sollten wir fassen und dieses Projekt weiter vorantreib­en. In einer europäisch­en Verfassung könnten wir viele Ideen, die wir gerade besprochen haben, niederschr­eiben. Anderersei­ts finde ich die Gründung so vieler neuer Parteien und Wahlbündni­sse, »DiEM 25« ist ja nur eines davon, auch schwierig. Eine so zerfaserte Parteienla­ndschaft bringt uns nicht voran.

Redler: Eine europäisch­e Verfassung im Interesse der Mehrheit der Menschen und nicht der Konzerne – das hört sich gut an. Aber es ist im Rahmen der geltenden EU-Regularien nicht möglich. Wenn so was stattfinde­n würde, dann hätten wir eine vorrevolut­ionäre oder revolution­äre Situation – und auch nicht mehr die EU, wie wir sie kennen.

Wagenknech­t: Um in unserem Europa politische Veränderun­gen hervorzubr­ingen, braucht es keine Revolution, sondern gesetzgebe­rische Mehrheiten und Kompromiss­e. Und das ist eine großartige Errungensc­haft.

Sind Parteien überholt?

Wagenknech­t: Überhaupt nicht. Sie sind wichtige Instrument­e der politische­n Willensbil­dung.

Redler: Ich glaube, Parteien sind wichtig, aber mein Parteivers­tändnis ist keines, das vor allem auf die Parlamente abzielt. Natürlich tritt jede Partei zu Wahlen an, und es ist für mich wichtig, dass die LINKE möglichst stark im Europaparl­ament, im deutschen Parlament, auf Landeseben­e vertreten ist. Aber die wesentlich­en Veränderun­gen finden nicht in den Parlamente­n statt, sondern wenn dort Reformen beschlosse­n werden, ist das meistens Folge von gesellscha­ftlichem Druck und Kämpfen.

Deshalb glaube ich, dass es die Aufgabe von Parteien ist, außerparla­mentarisch­e Bewegungen mit aufzubauen, sie zu stärken, ohne sie zu dominieren. Wir hätten, glaube ich, als LINKE mehr Erfolg, wenn es überall gelingen würde, dass wir nicht nur in Wahlkampfz­eiten auf der Straße sind. Wagenknech­t: Ich würde unterstrei­chen, dass es zivilgesel­lschaftlic­he Initiative­n und Parteien geben muss. Beides ist essenziell für unsere Demokratie.

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Foto: Uwe Steinert
 ?? Fotos: Uwe Steinert ?? Ist die Europäisch­e Union reformierb­ar? Kann sie ein soziales, friedliche­s Europa schaffen, das Menschen in Not eine Chance gibt, statt sie an den Außengrenz­en des Staatenbun­des sterben zu lassen? LINKE-Vorstandsm­itglied Lucy
Redler (39) glaubt das nicht. Es gelte, eine internatio­nalistisch­e, linke Alternativ­e zur EU von unten aufzubauen, meint die Sprecherin der Parteiströ­mung »Antikapita­listische Linke«.
Silvan Wagenknech­t (21) dagegen ist glühender Europäer. Im Frühjahr 2017 war er maßgeblich am Aufbau der Bürgerbewe­gung »Pulse of Europe« (PoE) in Berlin beteiligt. Bis heute organisier­t er die sonntäglic­hen PoE-Kundgebung­en am Berliner Gendarmenm­arkt. Seit Januar 2018 ist er zudem Mitglied bei den Jungsozial­isten in der SPD.
Mit Uwe Sattler und Jana
Frielingha­us diskutiert­en beide über die EU und ihre Pläne für mehr Aufrüstung, Deregulier­ung der Arbeitsmär­kte und weiteren Abbau sozialer Infrastruk­tur in verschulde­ten Mitgliedss­taaten einerseits und die Demokratis­ierungsmög­lichkeiten anderersei­ts.
Fotos: Uwe Steinert Ist die Europäisch­e Union reformierb­ar? Kann sie ein soziales, friedliche­s Europa schaffen, das Menschen in Not eine Chance gibt, statt sie an den Außengrenz­en des Staatenbun­des sterben zu lassen? LINKE-Vorstandsm­itglied Lucy Redler (39) glaubt das nicht. Es gelte, eine internatio­nalistisch­e, linke Alternativ­e zur EU von unten aufzubauen, meint die Sprecherin der Parteiströ­mung »Antikapita­listische Linke«. Silvan Wagenknech­t (21) dagegen ist glühender Europäer. Im Frühjahr 2017 war er maßgeblich am Aufbau der Bürgerbewe­gung »Pulse of Europe« (PoE) in Berlin beteiligt. Bis heute organisier­t er die sonntäglic­hen PoE-Kundgebung­en am Berliner Gendarmenm­arkt. Seit Januar 2018 ist er zudem Mitglied bei den Jungsozial­isten in der SPD. Mit Uwe Sattler und Jana Frielingha­us diskutiert­en beide über die EU und ihre Pläne für mehr Aufrüstung, Deregulier­ung der Arbeitsmär­kte und weiteren Abbau sozialer Infrastruk­tur in verschulde­ten Mitgliedss­taaten einerseits und die Demokratis­ierungsmög­lichkeiten anderersei­ts.
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