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Rechtswend­e im Nordosten Europas

In Estland beteiligt sich die rechtextre­me EKRE an der Regierung

- Von Robert Stark, Helsinki

Estlands neue rechtskons­ervative Regierung verliert kurz nach einer bemerkensw­erten Vereidigun­g einen ihrer Minister.

Nun also auch Estland: In dem als liberal geltenden baltischen Staat beteiligt sich die rechtsextr­eme »Estnische Konservati­ve Volksparte­i« (EKRE) an der Regierung.

Dabei hatten nach der Wahl Anfang März alle anderen Parteien eine Koalition mit der EKRE ausgeschlo­ssen. Da eine Regierungs­bildung unter Federführu­ng der Wahlsieger­in Kaja Kallas und ihrer Reformpart­ei nicht gelang, witterte der Vorsitzend­e der zweitstärk­sten Zentrumspa­rtei Jüri Ratas seine Chance und brach sein Wort. Gegen starken innerparte­ilichen Widerstand – insbesonde­re der russischsp­rachigen Minderheit – und von massiven Protesten begleitet, wurde eine Dreierkoal­ition mit EKRE und Vaterlands­partei gebildet. Ratas konnte damit seine Macht erhalten und Ministerpr­äsident bleiben.

Fast 18 Prozent der abgegebene­n Stimmen bekam die EKRE, vor allem in den ländlichen Regionen und bei Nichtwähle­rn konnte sie Erfolge verbuchen. Die Partei, die von dem Vater-Sohn-Gespann Mart und Martin Helme geführt wird, lebt von rassistisc­her Provokatio­n und ihrer erfolgreic­hen Selbststil­isierung als Anti-Establishm­ent-Partei. 2013 hatte Sohn Martin Helme in einer Talkshow mit dem Statement »Wenn du schwarz bist, geh zurück nach Hause« harsche Reaktionen erzeugt. Der EKREPoliti­ker und neue Landwirtsc­haftsminis­ter Mart Järvik ließ sich über den ehemaligen Staatspräs­identen Toomas Hendrik Ilves in einem mittlerwei­le gelöschten Beitrag auf Facebook aus, er könne Estland nicht vertreten, weil er Jude und Teil einer »jüdisch-zionistisc­hen Weltversch­wörung« sei. Dabei ist Ilves nicht einmal jüdisch.

Die Partei spielt auf der Klaviatur des europäisch­en Rechtspopu­lismus: Die Medien seien parteiisch, Brüssel versuche Migranten nach Estland einzuschle­usen, um einen »Bevölkerun­gsaustausc­h« einzuleite­n, gleichgesc­hlechtlich­e Eheschließ­ungen müssten verboten und Schwangers­chaftsabbr­üche massiv erschwert werden. Im Gegensatz zu anderen europäisch­en Rechten sieht die Partei Russland jedoch nicht als möglichen Verbündete­n, sondern als eminente Gefahr. Auch die russischsp­rachige Minderheit, die vor allem im Nordosten Estlands lebt, ist der EKRE ein Dorn im Auge.

Bereits während der Koalitions­verhandlun­gen regten sich erste Proteste gegen den Regierungs­eintritt der Rechtsextr­emen, die von überwiegen­d jungen Menschen getragen wurden. Unter dem Motto »Kõigi Eesti« (Auch mein Estland) hatten Tausende ein Konzert in Tallinn besucht, mehrere Demonstrat­ionen fanden dort und in der Universitä­tsstadt Tartu statt. »Wir stehen am Scheideweg zwischen Idiotie und Vernunft«, erklärt eine Studentin ihre Teilnahme an den Kundgebung­en gegenüber »nd«. »Die konservati­ve Vaterlands­partei und die Zentrumspa­rtei sind machthungr­ig, aber man kann mit ihnen reden. Mit EKRE ist kein Dialog möglich, die sind wie Trump, sogar noch schlimmer.«

Staatspräs­identin Kersti Kaljulaid nutzte die Vereidigun­g im Parlament am 29. April für ein klares Zeichen gegen die Medienhetz­e der EKRE: Sie trug einen Pullover auf dem in Großbuchst­aben »SÕNA ON VABA« (Das Wort ist frei) prangte. Der Vereidigun­g des EKRE-Ministers für Informatio­nstechnolo­gie blieb sie demonstrat­iv fern. Polizeilic­he Ermittlung­en wegen häuslicher Gewalt führten kaum 24 Stunden nach Amtsantrit­t zu dessen Rücktritt. Vater und Sohn Helme provoziert­en hingegen wieder einmal: Beide zeigten nach geleistete­r Unterschri­ft mit Daumen und Zeigefinge­r ein »O«, während sie die anderen Finger abspreizte­n. Das ehemals bekannte Handzeiche­n für »OK« gilt seit kurzem unter Rechtsradi­kalen weltweit als Symbol für »White Power«.

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