Rechtswende im Nordosten Europas
In Estland beteiligt sich die rechtextreme EKRE an der Regierung
Estlands neue rechtskonservative Regierung verliert kurz nach einer bemerkenswerten Vereidigung einen ihrer Minister.
Nun also auch Estland: In dem als liberal geltenden baltischen Staat beteiligt sich die rechtsextreme »Estnische Konservative Volkspartei« (EKRE) an der Regierung.
Dabei hatten nach der Wahl Anfang März alle anderen Parteien eine Koalition mit der EKRE ausgeschlossen. Da eine Regierungsbildung unter Federführung der Wahlsiegerin Kaja Kallas und ihrer Reformpartei nicht gelang, witterte der Vorsitzende der zweitstärksten Zentrumspartei Jüri Ratas seine Chance und brach sein Wort. Gegen starken innerparteilichen Widerstand – insbesondere der russischsprachigen Minderheit – und von massiven Protesten begleitet, wurde eine Dreierkoalition mit EKRE und Vaterlandspartei gebildet. Ratas konnte damit seine Macht erhalten und Ministerpräsident bleiben.
Fast 18 Prozent der abgegebenen Stimmen bekam die EKRE, vor allem in den ländlichen Regionen und bei Nichtwählern konnte sie Erfolge verbuchen. Die Partei, die von dem Vater-Sohn-Gespann Mart und Martin Helme geführt wird, lebt von rassistischer Provokation und ihrer erfolgreichen Selbststilisierung als Anti-Establishment-Partei. 2013 hatte Sohn Martin Helme in einer Talkshow mit dem Statement »Wenn du schwarz bist, geh zurück nach Hause« harsche Reaktionen erzeugt. Der EKREPolitiker und neue Landwirtschaftsminister Mart Järvik ließ sich über den ehemaligen Staatspräsidenten Toomas Hendrik Ilves in einem mittlerweile gelöschten Beitrag auf Facebook aus, er könne Estland nicht vertreten, weil er Jude und Teil einer »jüdisch-zionistischen Weltverschwörung« sei. Dabei ist Ilves nicht einmal jüdisch.
Die Partei spielt auf der Klaviatur des europäischen Rechtspopulismus: Die Medien seien parteiisch, Brüssel versuche Migranten nach Estland einzuschleusen, um einen »Bevölkerungsaustausch« einzuleiten, gleichgeschlechtliche Eheschließungen müssten verboten und Schwangerschaftsabbrüche massiv erschwert werden. Im Gegensatz zu anderen europäischen Rechten sieht die Partei Russland jedoch nicht als möglichen Verbündeten, sondern als eminente Gefahr. Auch die russischsprachige Minderheit, die vor allem im Nordosten Estlands lebt, ist der EKRE ein Dorn im Auge.
Bereits während der Koalitionsverhandlungen regten sich erste Proteste gegen den Regierungseintritt der Rechtsextremen, die von überwiegend jungen Menschen getragen wurden. Unter dem Motto »Kõigi Eesti« (Auch mein Estland) hatten Tausende ein Konzert in Tallinn besucht, mehrere Demonstrationen fanden dort und in der Universitätsstadt Tartu statt. »Wir stehen am Scheideweg zwischen Idiotie und Vernunft«, erklärt eine Studentin ihre Teilnahme an den Kundgebungen gegenüber »nd«. »Die konservative Vaterlandspartei und die Zentrumspartei sind machthungrig, aber man kann mit ihnen reden. Mit EKRE ist kein Dialog möglich, die sind wie Trump, sogar noch schlimmer.«
Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid nutzte die Vereidigung im Parlament am 29. April für ein klares Zeichen gegen die Medienhetze der EKRE: Sie trug einen Pullover auf dem in Großbuchstaben »SÕNA ON VABA« (Das Wort ist frei) prangte. Der Vereidigung des EKRE-Ministers für Informationstechnologie blieb sie demonstrativ fern. Polizeiliche Ermittlungen wegen häuslicher Gewalt führten kaum 24 Stunden nach Amtsantritt zu dessen Rücktritt. Vater und Sohn Helme provozierten hingegen wieder einmal: Beide zeigten nach geleisteter Unterschrift mit Daumen und Zeigefinger ein »O«, während sie die anderen Finger abspreizten. Das ehemals bekannte Handzeichen für »OK« gilt seit kurzem unter Rechtsradikalen weltweit als Symbol für »White Power«.