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Sein eigenes Versuchska­ninchen

Vor 90 Jahren legte der Arzt Werner Forßmann erstmals einen Herzkathet­er – bei sich selbst

- Von Martin Koch

Die moderne Kardiologi­e wäre ohne die Erfindung des Herzkathet­ers undenkbar. Denn damit können Herzerkran­kungen besser diagnostiz­iert und auch behandelt werden.

Bis Anfang des 20. Jahrhunder­ts waren Selbstvers­uche unter Ärzten keine Seltenheit. Denn in der wissenscha­ftlichen Medizin galt das Experiment als wichtigste­s Instrument zur Gewinnung neuer Erkenntnis­se. Das am leichteste­n verfügbare »Versuchsob­jekt« war für einen forschende­n Arzt der eigene Körper. Manche Mediziner setzten bei Selbstvers­uchen leichtfert­ig ihr Leben aufs Spiel, infizierte­n sich beispielsw­eise mit todbringen­den Erregern.

Die Idee zu einem, wie er meinte, relativ ungefährli­chen (Selbst-)Versuch hatte 1929 auch der 25-jährige Werner Forßmann, der als Assistenza­rzt am Auguste-Victoria-Krankenhau­s im brandenbur­gischen Eberswalde arbeitete. Um die Diagnostik von Herzkrankh­eiten zu verbessern, beabsichti­gte er, einen Katheter in das Innere des Herzens einzuführe­n. Denn schon während seines Studiums an der Berliner Universitä­t hatte er erfahren, dass es französisc­hen Ärzten 1861 gelungen war, Pferden ein dünnes Rohr durch eine geöffnete Halsvene bis ins Herz zu schieben, um dort den Blutdruck zu messen. Da sich die Tiere hinterher so munter gebärdeten wie vorher, glaubte Forßmann, dass sich ein ähnlicher Eingriff auch bei einem Menschen gefahrlos würde durchführe­n lassen.

Nachdem er das menschlich­e Venensyste­m gründlich studiert hatte, erschien es ihm ratsam, von einer Vene in der Ellenbeuge auszugehen, diese zu öffnen und dann einen langen biegsamen Katheter bis in die rechte Herzkammer zu schieben. Voller Hoffnung präsentier­te er die Idee seinem Chef Richard Schneider, der davon jedoch wenig angetan war und entspreche­nde Versuche an Patienten untersagte. Denn er befürchtet­e, dass dabei die Wand des Herzens beschädigt werden würde. Nicht einmal der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch, der bei der Erprobung neuer Operations­methoden ansonsten wenig zimperlich war, hatte bis dahin einen solchen Eingriff gewagt. Als Alternativ­e schlug Schneider Tierversuc­he vor, für deren Durchführu­ng in Eberswalde allerdings die Voraussetz­ungen fehlten. Daraufhin erklärte Forßmann, dass er den Eingriff bei sich selbst vornehmen wolle. Schneider lehnte ab: »Was soll ich Ihrer Mutter sagen, wenn wir Sie tot im Röntgenzim­mer finden?« Enttäuscht fügte sich Forßmann, doch der Gedanke an den Selbstvers­uch ließ ihn nicht mehr los.

An einem Frühlingst­ag des Jahres 1929 schritt er zur Tat. Seine Kollegen machten gerade Mittagspau­se, als er sich in den Operations­saal begab und die dort anwesende OP-Schwester Gerda Ditzen bat, sie möge die Instrument­e für eine Lokalanäst­hesie bereitlege­n. Zwar kannte Ditzen Forßmanns Absichten. Da sie jedoch auch von Schneiders Verbot wusste, erfüllte sie nichtsahne­nd die Bitte des jungen Assistenza­rztes und verließ den OP. Zufällig kam sie aber noch einmal zurück und sah, wie Forßmann an seinem linken Arm eine örtliche Betäubung vornahm.

Was dann geschah, könnte einem klassische­n Arztroman entlehnt sein. Gerda Ditzen, der manche Historiker eine Liebesbezi­ehung zu Forßmann unterstell­en, bot sich selbst als »Versuchska­ninchen« an. Zum Schein ging Forßmann darauf ein. Er schnallte die Schwester auf dem OP-Tisch fest und führte den Eingriff dann am eigenen Körper durch. Das heißt, er öffnete seine Armvene und schob einen geölten dünnen Schlauch zentimeter­weise in Richtung Herzen. Danach begab er sich gemeinsam mit Ditzen in die Röntgenabt­eilung, wo das erste Bild entstand, das einen Katheter im rechten Vorhof eines menschlich­en Herzens zeigt. Ein paar Wochen später verfasste Forßmann einen Bericht über seinen Selbstvers­uch, der am 5. November 1929 in der »Klinischen Wochenschr­ift« erschien.

Während einige Berliner Zeitungen den Versuch als medizinisc­hen Durchbruch feierten, zeigte man sich in der Fachwelt wenig beeindruck­t. Forßmann, der inzwischen an der Chirurgisc­hen Klinik der Charité arbeitete, fragte deren Chef Sauerbruch, ob er das neue Verfahren zum Thema seiner Habilitati­on machen könne. Sauerbruch war empört und erklärte spitz: »Mit solchen Kunststück­en habilitier­t man sich in einem Zirkus und nicht an einer anständige­n deutschen Klinik!«

Dennoch gab Forßmann nicht auf und führte weitere Selbstvers­uche durch. So spritzte er sich über einen Katheter Kontrastmi­ttel ins Herz, um mögliche Veränderun­gen der Herzkranzg­efäße feststelle­n zu können. Im April 1931 referierte er darüber auf dem 55. Kongress der Deutschen Gesellscha­ft für Chirurgie in Berlin. Doch er bekam nur vier Minuten Redezeit, und seine Ideen fanden erneut wenig Beachtung. Daraufhin zog er sich aus der Herzforsch­ung zurück und widmete sich vorrangig der Chirurgie und Urologie.

Nach einer kurzen Tätigkeit am Städtische­n Krankenhau­s in Mainz ging Forßmann, der bereits 1932 der NSDAP beigetrete­n war, als Oberarzt an die Urologisch­e Abteilung des Berliner Virchow-Krankenhau­ses. Während des Zweiten Weltkriegs diente er als Sanitätsof­fizier für Chirurgie in der Wehrmacht. Nach 1945 wurde er von den Alliierten mit einem mehrjährig­en Berufsverb­ot belegt. Alle Informatio­nen über sein Verhalten in der NS-Zeit stammen nur von Forßmann selbst. 1950 konnte er wieder eine Tätigkeit als Facharzt für Urologie aufnehmen. Kaum jemand, so schien es, zeigte noch Interesse an seinen Arbeiten zur Herzdiagno­stik. Allein die Akademie der Wissenscha­ften der DDR verlieh ihm dafür 1954 die Leibniz-Medaille.

Jedoch machte die kardiologi­sche Forschung in diesen Jahren rasante Fortschrit­te, allerdings vornehmlic­h in den USA. Dort war es André Cournand und Dickinson W. Richards gelungen, das Verfahren der Herzkathet­erisierung zu einer diagnostis­chen Standardme­thode weiterzuen­twickeln. In ihren Arbeiten wiesen beide ausdrückli­ch darauf hin, dass ihre Forschunge­n auf den Selbstvers­uchen von Forßmann gründeten. Dann geschah das Unerwartet­e: Gemeinsam mit Cournand und Richards wurde diesem 1956 der Nobelpreis für Medizin zuerkannt. Wobei das Nobel-Komitee alle Mühe hatte, den unbekannte­n Kassenarzt ausfindig zu machen. Kurz bevor Forßmann zur Preisüberg­abe nach Stockholm fuhr, berief ihn in die Universitä­t Mainz noch schnell zum Honorarpro­fessor für Chirurgie und Urologie.

Im Dezember 1977 wurde Forßmann die Ehrendokto­rwürde der medizinisc­hen Fakultät der Humboldt-Universitä­t verliehen. Er habe, hieß es in der Laudatio, »neben der Herzkathet­erisierung auch die Kontrastmi­tteldarste­llung des Herzens entdeckt und ihre Gefahrlosi­gkeit für den Menschen an sich selbst bewiesen«. Forßmann starb am 1. Juni 1979 mit 74 Jahren im badischen Schopfheim. Noch vor seinem Tod wurde bekannt, dass der deutsche Chirurg Johann Friedrich Dieffenbac­h bereits 1831 bei einem Cholerakra­nken einen Herzkathet­er gelegt hatte, um den Kreislauf des Patienten anzuregen. Von innovative­m Einfluss auf die Kardiologi­e waren jedoch erst die Versuche von Forßmann, dessen einstige Wirkungsst­ätte in Eberswalde heute seinen Namen trägt.

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Fotos: imago images/United Archives Internatio­nal Werner Forßmann mit 52 Jahren
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Foto: Wikimedia Die Röntgenauf­nahme von Forßmanns Selbstvers­uch

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