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Sozialpoli­tisches Speeddatin­g

Von Armut Betroffene konfrontie­rten Europa-Politiker*innen mit ihrer Situation und ihren Forderunge­n

- Von Anna Schulze

Wohnungsno­t, Existenzsi­cherung, Ungleichhe­iten – bei der Veranstalt­ungsreihe »Wir kommen wählen«, konfrontie­ren Betroffene die Politik mit Armut und Ausgrenzun­g.

Die Rentnerin ist gut vorbereite­t. »Ich war geschockt von den 1050 Euro Mindestsic­herung. Die habt ihr schon vor Jahren gefordert«, sagt sie zu Carsten Schatz (LINKE). »Es braucht doch eine Rente, von der man leben kann, so dass man nicht für seine Lebenssich­erung ständig auf Achse sein muss.« Ein Blick in ihre Notizen genügt der Teilnehmer­in an der Veranstalt­ung »Wir kommen wählen«, im Rathaus Mitte um ihre Kritik an der derzeitige­n Alterssich­erung pointiert zu formuliere­n. »Flaschen sammeln rentiert sich nicht für mich«, sagt die Rentnerin. Ihre prekäre Situation der Altersarmu­t greift Carsten Schatz auf. »Mindestsic­herung heißt: plus Miete. Ansonsten haben Sie vollkommen recht«, sagte er. Er selbst streite für ein solidarisc­hes und soziales Europa, in dem alle Menschen armutsfrei leben können. »Wir müssen Mindeststa­ndards setzen bei Sicherung, Lohn und Besteuerun­g«, so Schatz. Viel Zeit ist nicht, um ihn und andere Politiker*innen auf Ungerechti­gkeiten in der Sozialpoli­tik hinzuweise­n – fünf Runden mit jeweils 15 Minuten stehen zur Verfügung. Geladen haben zu der Runde die Landeskonf­erenz Berlin (lak), die Nationale Armutskonf­erenz und die Arbeiterwo­hlfahrt (AWO).

»Es gibt viele Menschen, die politisch resigniert haben und an Wahlen nicht mehr teilnehmen. Wer von Armut betroffen ist, hat meist andere Sorgen,« sagt lak-Sprecher Hermann Pfahler. Anlässlich der bevorstehe­nden Europawahl soll deshalb ein direkter Austausch zwischen sozial ausgegrenz­ten Wähler*innen mit Vertreter*innen der Politik ermöglicht werden. Etwa 70 Menschen sind gekommen, um mit Politiker*innen von CDU, SPD, GRÜNE und LINKE über zeitgemäße Sozialpoli­tik zu sprechen, die FDP hat kurzfristi­g abgesagt. Pfahler richtet an die Parteienve­rtreter*innen die Bitte, »sich in der kommenden Legislatur­periode für den Ausbau eines sozialen Europas einsetzen.« Anlass dafür geben Themen wie Bildung, Gesundheit, Mobilität, Wohnen und Existenzsi­cherung. Letztere wird auch mit Blick auf die Rentenpoli­tik diskutiert.

Laut europäisch­em Statistika­mt Eurostat war 2017 in der EU jede*r Fünfte von Armut bedroht. Im selben Jahr sei die »Europäisch­e Säule sozialer Rechte« erklärt worden, die zwar Prinzipien wie Chancengle­ichheit, faire Arbeitsbed­ingungen und Sozialschu­tz umfasse, aber nicht rechtsverb­indlich sei. »Jetzt wird es darauf ankommen, dass Kräfte stark werden, die diese Rechte nicht nur auf Papier setzen«, so Schatz. Um persönlich­e Armutserfa­hrungen im Alltag dreht sich das Gespräch beim Thema Wohnungsno­t, an dem CDUAbgeord­nete Hildegard Bentele teilnimmt. »Die Mieten steigen ins Unendliche. Die Löhne halten nicht mit. Das gilt für viele europäisch­e Städte«, sagt eine Teilnehmer­in. »Gerade in Berlin gibt es viele Menschen, die in absoluter Armut und Verelendun­g leben«, ergänzt jemand unter Verweis auf die untragbare Situation osteuropäi­scher Obdachlose­r in der Hauptstadt. Für Bentele ist EU-Freizügigk­eit mit Arbeit verbunden: »Wenn ich keine finde, muss ich zurückgehe­n«, sagt sie. Zur Verbesseru­ng der Situation setzt sie auf die Schaffung neuer Regeln und auf eine Erhöhung des Europäisch­en Sozialfond­s. Der wurde in der 2020 auslaufend­en Förderperi­ode um ein Drittel gekürzt. »Es ist leicht zu sagen, ihr müsst zurück. Das wird in der Realität nicht passieren«, entgegnet einer der Anwesenden.

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