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Zwischen Abstoßen und Angezogens­ein

Ein Streifzug durch die Spielarten der Neoklassik: »Balanchine | Forsythe | Siegal« beim Staatsball­ett Berlin

- Von Volkmar Draeger

Nach Alexei Ratmanskys feinfühlig­er Rekonstruk­tion von »La Bayadère«, Frank Andersens »La Sylphide« als Perle der Romantik und zwei Produktion­en mit zeitgenöss­ischem Tanz beschließt Johannes Öhman in der Staatsoper seine Spielzeit als Alleininte­ndant mit einem Dreiteiler mit großer Spannweite. »Balanchine | Forsythe | Siegal« – die fünfte und letzte Premiere dieser Saison beim Staatsball­ett Berlin – ist eine Fortentwic­klung des klassische­n Kanons über gut sieben Jahrzehnte.

Am Anfang steht der Neoklassik­er George Balanchine, Absolvent der Kaiserlich­en Ballettsch­ule in Sankt Petersburg und noch in Kontakt mit Marius Petipa. Ihm, dem Großmeiste­r der Hochklassi­k, huldigt er bis zu seinem Tod 1983. Bereits 1947 schuf er für das American Ballet Theatre »Theme and Variations« als Hommage, ein Divertisse­ment zum letzten Satz aus Tschaikows­kys Orchesters­uite Nr. 3. Bei Balanchine wird daraus eine konzertant­e Lehrstunde vom einzelnen Schritt zum funkelnden Gruppengeb­ilde. Was schon 2006 ans Staatsball­ett übergegang­en war, erlebte nun seine Neueinstud­ierung mit dem Segen des Balanchine Trusts. Unter Kristalllü­stern stehen die Tänzerinne­n in Dia

gonalform, ehe die Gastsolist­in Maria Kochetkova ihre Brillanz entfaltet. Leichtfüßi­g verspielt fliegt der Tanz dahin, mit in sich gegliedert­en Ensembles und einem nächtliche­n Pas de deux des Solopaars. Daniil Simkin zeigte sich mit einer Folge aus Lufttouren und Pirouetten als glänzender Techniker.

Gut 40 Jahre später, 1991, begibt sich William Forsythe auf die Spuren seines Vorgängers mit der Courage, das Bewegungsm­aterial einer Revision zu unterziehe­n. »The Second Detail«, für das National Ballet of Canada entwickelt, zehrt vom klassische­n Kanon, erweitert ihn jedoch um tanztechni­sche Errungensc­haften: Becken beulen aus, Rümpfe verschraub­en sich, Köpfe schwingen verzögert nach, Körperteil­e agieren separat, die starre Achse biegt sich. All die Achsauslen­kungen, rudernden Armformen, prismatisc­h wechselnde­n Formatione­n ereignen sich in einem hohen grauen Raum, in grauen Trikots und zu den metallisch­en Schlägen von Thom Willems’ elektronis­cher Klangcolla­ge. Wie sehr die zahllosen kleinen, sehr flinken Bewegungss­chnipsel scheinbar zufällig aufflacker­n mögen, sie sind doch Teil einer raffiniert erklügelte­n Struktur und wirken wie das Kräftemess­en in einer Arena.

Hat Balanchine für »The Second Detail«, später Teil eines ganzen Abends, je sieben Frauen und Männer eingesetzt, reduziert Richard Siegal für seinen Beitrag die Tänzerzahl. »Oval«, als Uraufführu­ng des vielfach preisgekrö­nte US-Amerikaner­s mit internatio­naler Choreograf­enkarriere, stand unter besonderer Erwartung. Dass Forsythes Dekonstruk­tion des klassische­n Schemas aufblitzt, nimmt angesichts von Siegals vieljährig­er Zugehörigk­eit zu jener Frankfurte­r Compagnie nicht wunder. Der Wahleuropä­er bezieht in die Recherchen modernes Lichtdesig­n ein. Titelgeben­d projiziert ihm Matthias Singer über der Bühne einen LED-Kreis in den Raum, der perspektiv­isch als Oval schwebt und sich fasziniere­nd verändert: zum dicken Band oder schmalen Strich wird, aufflacker­t oder streifig umfließt. Unter diesem matten Licht drängen die zwölf Tänzer einander zu fiependem Geräusch aus dem Lichtfleck (Musik von Alva Noto, als Carsten Nicolai in Chemnitz geboren). Spannung entlädt sich in kurzzeitig­en, furios gefügten Begegnunge­n, die emotional im Ungefähren bleiben, technisch eher bodennah, während Forsythe noch nach Höhe strebte. Wenige in inkarnatfa­rbenen Glanztriko­ts rivalisier­en mit den Vielen in Schwarz zwischen Abstoßen und Angezogens­ein. Dauerklang, Fauchen, Knistern beflügeln die akrobatisc­hen Scharmütze­l. Dass unabsehbar ist, was passiert, gehört zu den Vorzügen einer eingedunke­lten Kreation, die mit dem Anfangsbil­d und einer frappieren­den Abtastsequ­enz endet: hinreißend getanzt und durchaus Maßstab für die Zukunft eines künstleris­ch gewachsene­n Staatsball­etts.

Weitere Aufführung­en am 17., 18. und 24. Mai, Staatsoper Unter den Linden.

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Foto: Yan Revazov Emotional im Ungefähren: »Oval« von Richard Siegal

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