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»Duell Istanbul«

Yücel Özdemir kann sich vorstellen, dass eine bevorstehe­nde Fernsehdeb­atte Istanbuls Zukunft besiegeln wird

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Die Spannung steigt: Bis zur Wiederholu­ng der Bürgermeis­terwahl in Istanbul am 23. Juni verbleiben noch neun Tage. Doch es geht schon lange nicht mehr um die bloße Ernennung eines neuen Stadtoberh­aupts. Der Wahlkampf hat sich zu einem offenen Duell zwischen Regierung und Opposition entwickelt.

Das anstehende Fernsehdue­ll zwischen den beiden Bürgermeis­terkandida­ten dürfte diesen Zweikampf auf nationaler Ebene noch einmal verstärken. Ein Fernsehdue­ll – in europäisch­en Ländern geläufiger Teil eines Wahlkampfe­s – galt in der Türkei bisher als Tabu. Doch seit der heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan das Amt des Ministerpr­äsidenten erlangte, sehnt sich die Türkei nach solch einem Wahlkampff­ormat. Bisher lehnte Erdoğan jede Aufforderu­ng dazu mit den Worten »Die sind mir nicht gewachsen« ab.

Diesmal war es anders: Dem mehrmalige­n Aufruf des Opposition­skandidate­n Ekrem İmamoğlu zu einem solchen Duell stimmte der Kandidat des Regierungs­blocks, Binali Yıldırım, schlussend­lich zu. Man kann davon ausgehen, dass am Abend des 16. Juni ein neuer Rekord bei den Einschaltq­uoten aufgestell­t und die Wahlergebn­isse maßgeblich beeinfluss­t werden.

Erdoğan hingegen war nie dazu bereit, mit seinen Konkurrent­en von Angesicht zu Angesicht zu diskutiere­n. Er scheint zwar wie ein Meister der Polemiken und Diskussion­en, doch seine größte Schwäche ist das Risiko, das Selbstvert­rauen und die Kontrolle zu verlieren. Aufgrund dieser Sorge ist er seit Jahren nicht mehr in einem Zweikampf angetreten.

Sein Konkurrent Kemal Kılıçdaroğ­lu hingegen, Vorsitzend­er der Republikan­ische Volksparte­i (CHP), ist ein ausgesproc­hener Duel

lant. Sein politische­r Aufstieg ereignete sich im Wesentlich­en im Zweikampf mit zwei Anführern von Erdoğans Partei für Aufschwung und Gerechtigk­eit (AKP).

Diese Erfahrung wird er höchstwahr­scheinlich an İmamoğlu weitergebe­n, wodurch dieser im Duell mit Yıldırım punkten wird. Hinzu kommt, dass İmamoğlu durch seine 18 Tage im Bürgermeis­teramt viele potenziell brisante Informatio­nen in der Hand hält.

Es ist sehr wahrschein­lich, dass dieses Duell zu einem Stimmenzuw­achs für İmamoğlu führen wird. Nachdem er die Wahl am 31. März mit einem Vorsprung von 13 000 Stimmen gewonnen hatte, liegt er in den aktuellen Umfragen mit zwei Prozent vor seinem Gegner.

Wenn nicht auf den letzten Metern noch etwas anbrennt, ist İmamoğlus erneuter Wahlsieg gewiss. Aus diesem Grund setzen Erdoğan, Yıldırım und die AKP alles daran, um die verlorenen Wahlen doch noch zu gewinnen. In erster Linie soll İmamoğlus Ansehen beschädigt werden. In den sozialen Medien werden Videos verbreitet, die auf Fakenews basieren.

Erdoğan und Yıldırım, die sich darüber bewusst sind, dass der Schlüssel für die Wahl am 23. Juni bei den Millionen in Istanbul lebenden Kurden liegt, verfolgen die Strategie der Besänftigu­ng im Kurdenkonf­likt. Deshalb fuhr Yıldırım am dritten Tag des Zuckerfest­es nach Diyarbakır und sprach dort über Einigkeit. Er hat erkannt, dass der Weg zu den Kurden in Istanbul über die kurdische »Hauptstadt« Diyarbakır führt. Dass er während seines Besuchs den Begriff »Abgeordnet­er Kurdistans« verwendete, löste eine heftige Debatte aus. Vor allem die Nationalis­ten reagierten auf die scheinbare Anerkennun­g »Kurdistans«.

Berechtige­rweise kritisiert­en die kurdischen Politiker Yıldırıms Besuch in Diyarbakır und Urfa, durch die er die Herzen der Istanbuler Kurden gewinnen will. Mehrmals wurde betont, dass dieses Manöver zum Stimmenfan­g die Haltung der Demokratis­chen Partei der Völker (HDP) nicht verändern werde.

Die Entwicklun­gen zeigen, dass die Panik in der AKP nach wie vor anhält. Die Wahrschein­lichkeit einer Wahlnieder­lage am 23. Juni ist weitaus höher, als die des Sieges. Während er vor den letzten Wahlen noch zahlreiche Kundgebung­en organisier­te, hält sich der AKP-Vorsitzend­e und Präsident Erdoğan etwas zurück. In der regierungs­nahen Zeitung »Yeni Şafak« schrieb Mehmet Acet, dass Erdoğan die für Istanbul geplanten Kundgebung­en abgesagt habe. Es wird quasi schon vorbereite­t, die Niederlage bei den Wahlen in Istanbul nicht Erdoğan, sondern Yıldırım zuzuschrei­ben. Trotz dessen wird sich das »Duell Istanbul« direkt auf die politische Zukunft von Erdoğan und Yıldırım auswirken.

Aus dem Türkischen von Svenja Huck

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Foto: privat Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Tageszeitu­ng »Evrensel«.

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