Bei Abschiebungen plötzlich einig
Die Anarchistin Olga ist aus Russland in die Ukraine geflohen, weil sie sich dort sicher wähnte. Jetzt soll sie ausgewiesen werden. Doch zu Hause droht ihr Gefängnis. Sie ist kein Einzelfall.
Mit leiser Stimme beginnt die blonde, kurzhaarige, 21-jährige Olga im Zentrum von Kiew, in einem Café am Bessarabischen Markt, zu erzählen. Ihren Nachnamen nennt sie nicht. Olga nutzt kein Mobiltelefon, sie ist nirgendwo gemeldet. Seit Januar hat die russische Staatsbürgerin, die aus ihrer Heimat aus Angst vor politischer Verfolgung in die Ukraine geflohen ist, keine Aufenthaltsgenehmigung mehr. Die haben ihr die ukrainischen Migrationsbehörden entzogen. Aus politischen Gründen.
Vor ihrer Flucht aus Russland lebte die ausgebildete Köchin in Rjasan. Dort arbeitete sie in verschiedenen Kantinen und Restaurants, auch jetzt in Kiew schlägt sie sich als Köchin durch. Ihr inzwischen verstorbener älterer Bruder war Anarchist, erzählt Olga. Das habe sie sehr beeindruckt, und so habe auch sie sich für anarchistische Ideen zu interessieren begonnen. Doch die 500 000Einwohner-Stadt Rjasan ist nicht so politisiert wie beispielsweise Sankt Petersburg, Pensa oder Moskau. Und deswegen machte sie sich auf die Suche nach Gleichgesinnten. In Sankt Petersburg und Pensa nahm sie mit Aktivisten der kleinen anarchistischen Bewegung Kontakt auf.
Mit Folter soll der Geheimdienst Geständnisse erpressen
Zunächst blieb es bei einer losen Verbindung. 2014 und 2015 nahm sie auch mal an Aktionen teil, erzählt sie. Dann führte der russische Inlandsgeheimdienst FSB im November 2017 plötzlich eine Hausdurchsuchung bei ihr durch. Zunächst wusste Olga überhaupt nicht, was der FSB von ihr wollte. Doch dann wurde klar, dass der Inlandsgeheimdienst gegen eine Gruppe von Anarchisten und Antifaschisten ermittelte. Und es war genau diese Gruppe, mit der Olga in engem Austausch gewesen war.
Sie hatte inzwischen gehört, der Geheimdienst solle mit Folter Geständnisse erpressen. Olga selbst sei bei den Verhören bedroht worden, berichtet sie. Auch eine Haftstrafe habe man ihr angekündigt. Panikartig verließ sie daraufhin ihre Heimatstadt Rjasan und machte sich auf den Weg in die Ukraine. Dort, so dachte sie, sei sie vor einer Verfolgung durch den FSB sicher.
Derzeit stehen im russischen Pensa sieben Gesinnungsgenossen von Olga vor Gericht. Der im Oktober 2017 verhaftete angeklagte Antifaschist Dmitrij Ptschelinzew berichtete während einer der Verhandlungen von den Foltermethoden, mit denen der FSB Geständnisse erpresse. Man habe ihn, so zitiert ihn die russische Zeitung »Nowaja Gaseta« am 24. Mai 2019, mit Elektroschocks an den Füßen gefoltert. Es habe sich angefühlt, als ziehe man ihm die Haut ab.
Die russischen Behörden sehen in Dmitrij Ptschelinzew den Anführer der Bewegung. Der sieht das anders. Anarchisten haben keine Chefs. Ein Geständnis habe er dennoch unterschrieben, schreibt die »Nowaja Gazeta«. »Sie haben mir die Unterhose ausgezogen und mir Elektrofolter an den Geschlechtsteilen angedroht, wenn ich nicht zugebe, dass ich der Chef der Bewegung bin. Und so habe ich eben gesagt, dass ich der Chef bin«, zitiert ihn die Zeitung.
Im November 2017 in der Ukraine angekommen, nahm Olga sofort Kontakt mit ukrainischen Anarchisten und Antifaschisten auf. In einen von ihnen, Roman, einer der Meinungsführer der unabhängigen ukrainischen Linken, verliebte sie sich. Anfang 2018 heirateten sie. Durch die Eheschließung erhielt sie auch eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis.
In der Nacht vom 23. auf den 24. April 2018 nahmen Olga und Roman im Gebiet Nikolajew an einer Aktion zur Unterstützung von Arbeitern einer Werft teil. Sie hängten nachts Flugblätter auf, besprühten Wände mit Parolen. Dabei wurden sie von der ukrainischen Polizei verhaftet und anschließend vom ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU verhört. Beide seien dabei von den Beamten schwer geschlagen worden, berichtet Olga dem »nd«. Die »Menschenrechtsgruppe Charkiw« hätte über die Misshandlungen an Roman berichtet, der sich die Verletzungen von Ärzten habe bestätigen lassen.
Im Januar 2019 dann der Schock. Auf Verlangen des SBU (Schreiben liegt »nd« vor) wurde ihre ukrainische Aufenthaltsgenehmigung für ungültig erklärt. Olga zufolge sieht der Geheimdienst in ihr eine Gefahr für die Sicherheit der Ukraine – die Vorwürfe, die er macht, bezögen sich teilweise auf eine Zeit, in der Olga noch gar nicht in der Ukraine lebte. Für sie bedeutet das: Weil sie nun ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung ist, muss sie fürchten, jederzeit bei einer Personenkontrolle festgenommen zu werden. Selbst ihre Ehe mit Roman kann ihren Aufenthaltsstatus nun nicht mehr sichern.
Für Russland sind die Anarchisten Terroristen
Roman glaubt, dass die Behörden Olga schikanieren, um Druck auf ihn auszuüben. Irgendwann habe ein SBU-Beamter in einem Verhör ihm scheinbar spaßeshalber Grüße vom russischen Geheimdienst FSB ausgerichtet, berichtet er dem Internetportal »Zaborona«. Er befürchtet, dass russische und ukrainische Geheimdienstler, die sich oft noch aus einer anderen Zeit kennen, Olga nach Russland abschieben wollen.
Es sind kleine, voneinander unabhängige, den Anarchisten nahestehende Gruppierungen wie »Das Netzwerk« oder »Die neue Größe«, die mittlerweile von den russischen Strafverfolgungsbehörden als Terrorgruppen eingestuft werden und bei deren Verfolgung die Behörden auch vor Foltermethoden nicht zurückschrecken. Mit dem 31. Oktober 2018 nahmen die Repressionen gegen die kleine, unabhängige linke Bewegung in Russland an Schärfe weiter zu. An diesem Tag hatte der 17-jährige Student Michail Schlobizkij in der Stadt Archangelsk im Gebäude des Inlandsgeheimdienstes FSB einen Sprengsatz gezün
det. Schlobizkij kam dabei selbst ums Leben, drei FSB-Mitarbeiter wurden verletzt. Kurz vor dem Anschlag, so will es die in Moskau erscheinende »Nowaja Gazeta« erfahren haben, habe Schlobizkij in einer anarchistischen Chatgruppe auf »Telegram« seine Tat angekündigt, diese mit Folter und fingierten Strafprozessen, für die er den FSB verantwortlich macht, begründet.
Anfang April dieses Jahres, so die russische Menschenrechtsorganisation »OVD-Info«, seien vom FSB in sechs russischen Städten gleichzeitig Hausdurchsuchungen bei Linken durchgeführt worden. Am 8. April begann dann der Prozess gegen die Sankt Petersburger Anarchisten Viktor Filinkow und Julia Bojarschinowa vom »Netzwerk«, das im Mai von Russlands Behörden schließlich zu einer Terrorgruppe erklärt wurde.
Seit Oktober 2017 ist der inzwischen 23jährige Ilja Schakurskij inhaftiert. Der Student am Institut für Physik und Mathematik von Pensa und Mitglied einer Punkrockband war zuvor in der Obdachlosenhilfe und der Umweltschutzbewegung aktiv. In Pensa, so die »Nowaja Gazeta«, galt er als der bekannteste Antifaschist. Seine Auseinandersetzungen mit russischen Nationalisten führte er nicht nur im Internet. In der Folge sei er einmal, nachdem er von Rechtsradikalen auf der Straße erkannt worden war, für einen Monat im Krankenhaus gelandet.
Olga floh in die Ukraine, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass ausgerechnet die Ukraine an Russland ausliefert. Doch trotz aller Sanktionen: Wenn es um Abschiebungen und Auslieferungen geht, arbeiten russischer und ukrainischer Geheimdienst zusammen. Am 12. September 2018 hatte die Ukraine einem russischen Auslieferungsgesuch stattgegeben und den tschetschenischen Oppositionellen Timur Tumgojew nach Russland ausgeliefert. Dort angekommen, wurde dieser sofort verhaftet. Und Tumgojew ist nicht der einzige. Jedes Jahr, so zitiert das ukrainische Internetportal »kp.ua« am 17. September 2018 den ukrainischen Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko, lieferten sich Russland und die Ukraine gegenseitig ungefähr hundert Personen aus.
So wurde am 17. Januar 2019 die Ukrainerin Elena Bojko in die Ukraine abgeschoben. In Russland war Bojko immer wieder in Talkshows über die »Faschisten in Kiew« hergezogen. Sofort nach ihrer Ankunft in der Ukraine wurde sie festgenommen. Ihr drohen nun wegen »Staatsverrat« und »Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine« bis zu zehn Jahre Haft.
Olga erwirkt Abschiebestopp bei Europäischem Gerichtshof
Olga hat eigenen Angaben zufolge bei einem Kiewer Gericht beantragt, einer möglichen Abschiebung nicht stattzugeben. Das Gericht wies ihren Antrag zurück. Olga wandte sich daraufhin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR). Der hat sich ihres Falls angenommen und zunächst ihre Abschiebung bis zum Ende des Verfahrens am ECHR verboten (Schreiben liegt »nd« vor). Das Verfahren wird voraussichtlich ein bis 1,5 Jahre dauern. Dazu hat der ECHR die Ukraine auch aufgefordert, die Annullierung der Aufenthaltserlaubnis zu begründen.
Hoffnung könnte für Oppositionelle, die in der Ukraine Asyl suchen, auch der neu gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj sein. Er hat eine liberalere Asylpolitik angekündigt. Die Ukraine, so Selenskyj kurz nach seiner Wahl, werde allen Menschen Schutz und Asyl gewähren, die für die Freiheit kämpfen.