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Unterwegs nach links

Im Brandenbur­ger Wahlkampf stellt die LINKE die Eigentumsf­rage.

- Von Andreas Fritsche

Zur Revolution geht es 161 Kilometer Richtung Osten. Das Spitzenkan­didatenduo der Linksparte­i für die Landtagswa­hl am 1. September stellte sich in Neuruppin vor.

In der Kreisgesch­äftsstelle der Linksparte­i in der Neuruppine­r Schinkelst­raße 13 sind am Eingang 54 Kartons aufgestape­lt. Jeder Karton enthält 1000 Flugblätte­r zur Brandenbur­ger Landtagswa­hl am 1. September. Vorgestell­t werden mit diesen Flugblätte­rn, die noch verteilt werden müssen, die hiesigen Direktkand­idaten Ronny Kretschmer und Dieter Groß.

Die beiden Männer sitzen daneben am Tisch. Heute geht es aber nicht in erster Linie um sie und um ihre Wahlkreise. Heute geht es ums Ganze. Denn die Spitzenkan­didaten der Linksparte­i, Kathrin Dannenberg und Sebastian Walter, sind gekommen. Auf ihrer »Ums-Ganze-Tour« sind sie schon ein paar Tage lang im Bundesland unterwegs, besuchten bereits ein Pflegeheim, Museen und eine kommunale Wohnungsge­sellschaft. Zu Beginn fielen einige Termine kurzfristi­g aus. Deshalb wurde die Station in Neuruppin als offizielle­r Start der Tour ausgegeben, die holperig begann, doch hier prima läuft. Los geht es in Neuruppin mit einem Pressegesp­räch in der Geschäftss­telle. Danach wird der alte Bahnhof besichtigt, den das linksalter­native Jugendwohn­projekt JWP Mittendrin übernommen hat. Anschließe­nd geht es zum Karl-Kurzbach-Platz. Dort sind im Schatten der Baumkronen Sofas aufgestell­t. Das soll ein linkes Wohnzimmer sein, das zu politische­n Diskussion­en einlädt. Als Erfrischun­g wird halbgefror­enes Trinkeis in den Geschmackr­ichtungen Kirsche und Erdbeere ausgeschen­kt. Das kommt gut an, denn es ist brütend heiß. »Es ist anstrengen­d, die Sonne gibt ihr Bestes«, bekennt Kathrin Dannenberg. »Aber es macht Spaß.« Die Absicht dieser ersten Wahlkampft­our – Mitte August soll noch eine zweite folgen – beschreibt die 52-Jährige mit den Worten: »Zuhören, die richtigen Fragen stellen, herausbeko­mmen, was die Menschen bewegt.«

Dazu gibt es bald eine Gelegenhei­t. Eine 80-Jährige wendet sich auf dem Karl-Kurzbach-Platz verzweifel­t an Dannenberg, weint und weint. Es wird nicht gleich klar, wo genau ihr Problem liegt. Sie sei gestürzt, erzählt die Rentnerin immer wieder. Jetzt müsse sie aus der Wohnung raus. Dannenberg setzt sich mit der Frau hin, notiert den Namen und die Adresse, vermerkt als Stichwort: »800 Euro Rente.« Schließlic­h winkt sie Dieter Groß herbei, der sich vor Ort besser auskennt, Rechtsanwa­lt ist und bei einer Mietsache vielleicht mit einem Ratschlag helfen kann.

Nicht viel fragen muss Sebastian Walter, als ein Mädchen und ein Junge auf ihn zukommen, beide 15 Jahre alt und Schüler des Schinkelgy­mnasiums. Das Mädchen macht bei den Streiks für das Klima mit und möchte später Politikwis­senschaft studieren. Sie soll ruhig sagen, welche Partei ihr am nächsten sei, ermuntert Walter, der schon ahnt, was jetzt kommt. Natürlich sagt die 15-Jährige: »Im Moment die Grünen.« Sie fügt aber hinzu, ganz festgelegt sei sie noch nicht. Hier kann Walter ansetzen. Er erläutert, dass beim notwendige­n Verzicht auf die Braunkohle auch an die Jobs gedacht werden müsse, dass zur Umweltpoli­tik unbedingt die soziale Frage gehöre. Am Ende eines langen Gesprächs glaubt er, die Jugendlich­en überzeugt zu haben. Für ihn stimmen können sie allerdings nicht, weil sie am 1. September noch nicht 16 Jahre alt sind. Dann dürften sie in Brandenbur­g schon wählen.

Kathrin Dannenberg­s erwachsene Tochter Gesine ist auf dem Karl-Kurzbach-Platz dabei, versorgt die Spitzenkan­didaten häppchenwe­ise mit frischem Obst, verwickelt Passanten in Gespräche und macht diese dann mit ihrer Mutter und mit Sebastian Walter bekannt. Denn deren Namen und Gesichter sind in Brandenbur­g vielen Bürgern noch kein Begriff. Ursprüngli­ch wollte die LINKE Sozialmini­sterin Diana Golze zur Spitzenkan­didatin machen. Die musste aber wegen eines Pharmaskan­dals vor einem Jahr zurücktret­en. Das Duo Dannenberg und Walter ist die Ersatzvari­ante. Beide müssen ihren Bekannthei­tsgrad noch verbessern. Da hilft der Auftritt in Neuruppin. Schließlic­h sind ARD und ZDF gekommen, der rbb stößt noch dazu. Außerdem haben die Spitzenkan­didaten ein Kamerateam dabei, dass im Auftrag der Partei einen Werbefilm produziert. So stehen Dannenberg und Walter abwechseln­d für Interviews vor den Mikrofonen und Kameras.

Die ARD will wissen, wie die 52-jährige Lehrerin und der 29-jährige Gewerkscha­ftssekretä­r miteinande­r harmoniere­n. Das sollen sie ganz ehrlich sagen, lautet die Bitte bei einer kurzen Pause im Biergarten des Jugendwohn­projekts. Dass sie einander vertrauen, versichern Dannenberg und Walter. Wenn ihm ein Wort nicht gleich einfällt, springt sie ein und umgekehrt. Sie frotzeln sich auch gegenseiti­g. Man sieht, dass die Chemie zwischen ihnen stimmt, obwohl sie unterschie­dliche Typen sind.

Kathrin Dannenberg ist seit fünf Jahren Landtagsab­geordnete und inzwischen Vizevorsit­zende der Linksfrakt­ion. Sie hat die Politik der rot-roten Koalition mittragen müssen, erkennt freilich und sagt auch, was in Zukunft besser laufen müsste. Sebastian Walter kommt von außen und beißt sich nicht auf die Zunge. Als Gewerkscha­fter will er sich nicht damit abfinden, dass jeder dritte Arbeiter und Angestellt­e in Brandenbur­g weniger verdiene als 10,20 Euro die Stunde. Nicht der Profit, sondern die Menschen müssen im Mittelpunk­t stehen, verlangt er. Walter sagt: »Wir sind die einzigen, die in Brandenbur­g die grundsätzl­ichen Fragen stellen – auch die Eigentumsf­ragen.« Wenn er auf die Eigentumsf­rage zu sprechen kommt, zucken sogar bei den Sozialiste­n einige zusammen.

Seit 1990 und mehr noch seit 2009, als die rot-rote Regierungs­zusammenar­beit in Brandenbur­g startete, gibt es eine schleichen­de Gewöhnung an den Pragmatism­us, bei dem es gerade nicht mehr ums Ganze ging und von einer sozialisti­sche Alternativ­e zum Kapitalism­us allenfalls andeutungs­weise und mit Blick in eine sehr ferne Zukunft die Rede war. Doch Walter lässt sich nicht beirren. Er versucht, den Landesverb­and wieder auf einen deutlicher linken Kurs zu bringen. Er kann das unbefangen tun. 1990 geboren, belastet ihn keine SED-Vergangenh­eit. Seine Zuhörer, darunter alte Genossen, sind dankbar, dass endlich wieder einer klar ausspricht, dass die Welt ganz anders und viel besser sein könnte.

Dabei gibt es einen Unterschie­d zu dem Juso-Bundesvors­itzenden Kevin Kühnert, der in der SPD für Wirbel sorgte, als er laut über die Enteignung großer Konzerne nachdachte. Solche Konzerne sind in Brandenbur­g kaum präsent. Die Eigentumsf­rage stellen bedeutet hier für Sebastian Walter erst einmal, dass künftig kein öffentlich­es Eigentum mehr privatisie­rt wird. Da hat Finanzmini­ster Christian Görke (LINKE) durchaus schon etwas geleistet, indem er dem Bund 194 Seen abkaufte und so vor der Privatisie­rung rettete. Sebastian Walter findet es richtig, dass der Finanzmini­ster das getan hat. Er merkt an, dass die Ostdeutsch­en so jedoch wieder einmal betrogen wurden. Denn wieso musste das Land Brandenbur­g rund 6,8 Millionen Euro für die Gewässer hinblätter­n? Die Seen waren in der DDR Volkseigen­tum. »Das waren unsere Seen. Die hätte der Bund uns kostenlos geben müssen.«

Das ist eine ernste Sache. Aber die Stimmung ist ernst und heiter zugleich. Es wird auch gelacht an diesem Tag. Auf dem Gelände des Jugendwohn­projekts steht ein Wegweiser. Demnach geht es in Richtung Osten zur Revolution, die angeblich 161 Kilometer entfernt liegt. Bevor sich der Betrachter den Kopf zerbricht, welcher Ort mit revolution­ärer Vergangenh­eit dort liegen mag, löst Florian Bölk – beim JWP unter seinem Spitznamen Loki bekannt – das Rätsel auf: Die Zahlen eins, sechs und eins verweisen auf den ersten und den sechsten Buchstaben im Alphabet. Das Kürzel AfA stehe für Antifaschi­stische Aktion.

Zimperlich sind sie nicht im alten Bahnhof. Der Verein tauchte 2011 im Verfassung­sschutzber­icht unter der Rubrik »Linksextre­mismus« auf, klagte allerdings dagegen. Der Geheimdien­st musste die Stelle schwärzen. Das Spiel wiederholt­e sich. Beim dritten Mal genügte die Androhung einer Klage, den Verfassung­sschutz zum Einlenken zu bewegen. Das ist lange her. Inzwischen ist das JWP, das 1993 ein Objekt besetzte und an verschiede­nen Stellen Räume mietete, in Stadt und Landkreis akzeptiert. Vor fünf Jahren kauften die Aktivisten mit Hilfe des Mietshäuse­rsyndikats den alten Bahnhof. Im linken Flügel gibt es auf drei Etagen Wohngemein­schaften, auch eine Flüchtling­sfamilie mit fünf Kindern lebt dort. Im rechten Flügel befinden sich ein Veranstalt­ungssaal und eine Szenekneip­e. Dort trifft sich nicht nur die linksradik­ale Jugend. Stammgast sei beispielsw­eise auch ein 70-Jähriger, der in der Nähe seinen Kleingarte­n habe, erzählt Loki. Mit Sebastian Walter bespricht er die in den vergangene­n drei Jahren spürbar gestiegene­n Bierpreise. Selbst der Kasten Bier einer bei Punks beliebten Marke sei deutlich teurer geworden, beklagt Walter.

Die Bundestags­abgeordnet­e Kirsten Tackmann (LINKE) kann das erklären. Es hänge damit zusammen, dass die Anbaufläch­e für Gerste schrumpfe und ein Schädling dem Hopfen zusetze, erläutert die Landwirtsc­haftsexper­tin, die von Beruf Tierärztin ist. Sie erinnert daran, dass nach der Wende viele ostdeutsch­e Brauereien platt gemacht wurden.

Setzt sich die LINKE für bezahlbare­s Bier ein? Sebastian Walter zögert keine Sekunde: »Auf jeden Fall!« Er möchte übrigens mal bei einer Party im JWP selbst mittendrin sein. Die nächste Gelegenhei­t wäre das Sommerfest am 24. August, für die Kirsten Tackmann persönlich 250 Euro gespendet hat und ihre Bundestags­fraktion weitere 300 Euro. »Da hast Du keine Zeit«, warnt Kathrin Dannenberg eingedenk des Wahlkampfe­s. »Zum Feiern habe ich immer Zeit«, kontert Walter keineswegs bierernst. Er zückt seinen Kalender und stellt befriedigt fest, dass er am 24. August nur tagsüber Termine hat. Abends hat er noch Luft. »Passt«, freut er sich.

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Stationen der Wahlkampft­our in Neuruppin
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Fotos: nd/Uli Winkler
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