Unterwegs nach links
Im Brandenburger Wahlkampf stellt die LINKE die Eigentumsfrage.
Zur Revolution geht es 161 Kilometer Richtung Osten. Das Spitzenkandidatenduo der Linkspartei für die Landtagswahl am 1. September stellte sich in Neuruppin vor.
In der Kreisgeschäftsstelle der Linkspartei in der Neuruppiner Schinkelstraße 13 sind am Eingang 54 Kartons aufgestapelt. Jeder Karton enthält 1000 Flugblätter zur Brandenburger Landtagswahl am 1. September. Vorgestellt werden mit diesen Flugblättern, die noch verteilt werden müssen, die hiesigen Direktkandidaten Ronny Kretschmer und Dieter Groß.
Die beiden Männer sitzen daneben am Tisch. Heute geht es aber nicht in erster Linie um sie und um ihre Wahlkreise. Heute geht es ums Ganze. Denn die Spitzenkandidaten der Linkspartei, Kathrin Dannenberg und Sebastian Walter, sind gekommen. Auf ihrer »Ums-Ganze-Tour« sind sie schon ein paar Tage lang im Bundesland unterwegs, besuchten bereits ein Pflegeheim, Museen und eine kommunale Wohnungsgesellschaft. Zu Beginn fielen einige Termine kurzfristig aus. Deshalb wurde die Station in Neuruppin als offizieller Start der Tour ausgegeben, die holperig begann, doch hier prima läuft. Los geht es in Neuruppin mit einem Pressegespräch in der Geschäftsstelle. Danach wird der alte Bahnhof besichtigt, den das linksalternative Jugendwohnprojekt JWP Mittendrin übernommen hat. Anschließend geht es zum Karl-Kurzbach-Platz. Dort sind im Schatten der Baumkronen Sofas aufgestellt. Das soll ein linkes Wohnzimmer sein, das zu politischen Diskussionen einlädt. Als Erfrischung wird halbgefrorenes Trinkeis in den Geschmackrichtungen Kirsche und Erdbeere ausgeschenkt. Das kommt gut an, denn es ist brütend heiß. »Es ist anstrengend, die Sonne gibt ihr Bestes«, bekennt Kathrin Dannenberg. »Aber es macht Spaß.« Die Absicht dieser ersten Wahlkampftour – Mitte August soll noch eine zweite folgen – beschreibt die 52-Jährige mit den Worten: »Zuhören, die richtigen Fragen stellen, herausbekommen, was die Menschen bewegt.«
Dazu gibt es bald eine Gelegenheit. Eine 80-Jährige wendet sich auf dem Karl-Kurzbach-Platz verzweifelt an Dannenberg, weint und weint. Es wird nicht gleich klar, wo genau ihr Problem liegt. Sie sei gestürzt, erzählt die Rentnerin immer wieder. Jetzt müsse sie aus der Wohnung raus. Dannenberg setzt sich mit der Frau hin, notiert den Namen und die Adresse, vermerkt als Stichwort: »800 Euro Rente.« Schließlich winkt sie Dieter Groß herbei, der sich vor Ort besser auskennt, Rechtsanwalt ist und bei einer Mietsache vielleicht mit einem Ratschlag helfen kann.
Nicht viel fragen muss Sebastian Walter, als ein Mädchen und ein Junge auf ihn zukommen, beide 15 Jahre alt und Schüler des Schinkelgymnasiums. Das Mädchen macht bei den Streiks für das Klima mit und möchte später Politikwissenschaft studieren. Sie soll ruhig sagen, welche Partei ihr am nächsten sei, ermuntert Walter, der schon ahnt, was jetzt kommt. Natürlich sagt die 15-Jährige: »Im Moment die Grünen.« Sie fügt aber hinzu, ganz festgelegt sei sie noch nicht. Hier kann Walter ansetzen. Er erläutert, dass beim notwendigen Verzicht auf die Braunkohle auch an die Jobs gedacht werden müsse, dass zur Umweltpolitik unbedingt die soziale Frage gehöre. Am Ende eines langen Gesprächs glaubt er, die Jugendlichen überzeugt zu haben. Für ihn stimmen können sie allerdings nicht, weil sie am 1. September noch nicht 16 Jahre alt sind. Dann dürften sie in Brandenburg schon wählen.
Kathrin Dannenbergs erwachsene Tochter Gesine ist auf dem Karl-Kurzbach-Platz dabei, versorgt die Spitzenkandidaten häppchenweise mit frischem Obst, verwickelt Passanten in Gespräche und macht diese dann mit ihrer Mutter und mit Sebastian Walter bekannt. Denn deren Namen und Gesichter sind in Brandenburg vielen Bürgern noch kein Begriff. Ursprünglich wollte die LINKE Sozialministerin Diana Golze zur Spitzenkandidatin machen. Die musste aber wegen eines Pharmaskandals vor einem Jahr zurücktreten. Das Duo Dannenberg und Walter ist die Ersatzvariante. Beide müssen ihren Bekanntheitsgrad noch verbessern. Da hilft der Auftritt in Neuruppin. Schließlich sind ARD und ZDF gekommen, der rbb stößt noch dazu. Außerdem haben die Spitzenkandidaten ein Kamerateam dabei, dass im Auftrag der Partei einen Werbefilm produziert. So stehen Dannenberg und Walter abwechselnd für Interviews vor den Mikrofonen und Kameras.
Die ARD will wissen, wie die 52-jährige Lehrerin und der 29-jährige Gewerkschaftssekretär miteinander harmonieren. Das sollen sie ganz ehrlich sagen, lautet die Bitte bei einer kurzen Pause im Biergarten des Jugendwohnprojekts. Dass sie einander vertrauen, versichern Dannenberg und Walter. Wenn ihm ein Wort nicht gleich einfällt, springt sie ein und umgekehrt. Sie frotzeln sich auch gegenseitig. Man sieht, dass die Chemie zwischen ihnen stimmt, obwohl sie unterschiedliche Typen sind.
Kathrin Dannenberg ist seit fünf Jahren Landtagsabgeordnete und inzwischen Vizevorsitzende der Linksfraktion. Sie hat die Politik der rot-roten Koalition mittragen müssen, erkennt freilich und sagt auch, was in Zukunft besser laufen müsste. Sebastian Walter kommt von außen und beißt sich nicht auf die Zunge. Als Gewerkschafter will er sich nicht damit abfinden, dass jeder dritte Arbeiter und Angestellte in Brandenburg weniger verdiene als 10,20 Euro die Stunde. Nicht der Profit, sondern die Menschen müssen im Mittelpunkt stehen, verlangt er. Walter sagt: »Wir sind die einzigen, die in Brandenburg die grundsätzlichen Fragen stellen – auch die Eigentumsfragen.« Wenn er auf die Eigentumsfrage zu sprechen kommt, zucken sogar bei den Sozialisten einige zusammen.
Seit 1990 und mehr noch seit 2009, als die rot-rote Regierungszusammenarbeit in Brandenburg startete, gibt es eine schleichende Gewöhnung an den Pragmatismus, bei dem es gerade nicht mehr ums Ganze ging und von einer sozialistische Alternative zum Kapitalismus allenfalls andeutungsweise und mit Blick in eine sehr ferne Zukunft die Rede war. Doch Walter lässt sich nicht beirren. Er versucht, den Landesverband wieder auf einen deutlicher linken Kurs zu bringen. Er kann das unbefangen tun. 1990 geboren, belastet ihn keine SED-Vergangenheit. Seine Zuhörer, darunter alte Genossen, sind dankbar, dass endlich wieder einer klar ausspricht, dass die Welt ganz anders und viel besser sein könnte.
Dabei gibt es einen Unterschied zu dem Juso-Bundesvorsitzenden Kevin Kühnert, der in der SPD für Wirbel sorgte, als er laut über die Enteignung großer Konzerne nachdachte. Solche Konzerne sind in Brandenburg kaum präsent. Die Eigentumsfrage stellen bedeutet hier für Sebastian Walter erst einmal, dass künftig kein öffentliches Eigentum mehr privatisiert wird. Da hat Finanzminister Christian Görke (LINKE) durchaus schon etwas geleistet, indem er dem Bund 194 Seen abkaufte und so vor der Privatisierung rettete. Sebastian Walter findet es richtig, dass der Finanzminister das getan hat. Er merkt an, dass die Ostdeutschen so jedoch wieder einmal betrogen wurden. Denn wieso musste das Land Brandenburg rund 6,8 Millionen Euro für die Gewässer hinblättern? Die Seen waren in der DDR Volkseigentum. »Das waren unsere Seen. Die hätte der Bund uns kostenlos geben müssen.«
Das ist eine ernste Sache. Aber die Stimmung ist ernst und heiter zugleich. Es wird auch gelacht an diesem Tag. Auf dem Gelände des Jugendwohnprojekts steht ein Wegweiser. Demnach geht es in Richtung Osten zur Revolution, die angeblich 161 Kilometer entfernt liegt. Bevor sich der Betrachter den Kopf zerbricht, welcher Ort mit revolutionärer Vergangenheit dort liegen mag, löst Florian Bölk – beim JWP unter seinem Spitznamen Loki bekannt – das Rätsel auf: Die Zahlen eins, sechs und eins verweisen auf den ersten und den sechsten Buchstaben im Alphabet. Das Kürzel AfA stehe für Antifaschistische Aktion.
Zimperlich sind sie nicht im alten Bahnhof. Der Verein tauchte 2011 im Verfassungsschutzbericht unter der Rubrik »Linksextremismus« auf, klagte allerdings dagegen. Der Geheimdienst musste die Stelle schwärzen. Das Spiel wiederholte sich. Beim dritten Mal genügte die Androhung einer Klage, den Verfassungsschutz zum Einlenken zu bewegen. Das ist lange her. Inzwischen ist das JWP, das 1993 ein Objekt besetzte und an verschiedenen Stellen Räume mietete, in Stadt und Landkreis akzeptiert. Vor fünf Jahren kauften die Aktivisten mit Hilfe des Mietshäusersyndikats den alten Bahnhof. Im linken Flügel gibt es auf drei Etagen Wohngemeinschaften, auch eine Flüchtlingsfamilie mit fünf Kindern lebt dort. Im rechten Flügel befinden sich ein Veranstaltungssaal und eine Szenekneipe. Dort trifft sich nicht nur die linksradikale Jugend. Stammgast sei beispielsweise auch ein 70-Jähriger, der in der Nähe seinen Kleingarten habe, erzählt Loki. Mit Sebastian Walter bespricht er die in den vergangenen drei Jahren spürbar gestiegenen Bierpreise. Selbst der Kasten Bier einer bei Punks beliebten Marke sei deutlich teurer geworden, beklagt Walter.
Die Bundestagsabgeordnete Kirsten Tackmann (LINKE) kann das erklären. Es hänge damit zusammen, dass die Anbaufläche für Gerste schrumpfe und ein Schädling dem Hopfen zusetze, erläutert die Landwirtschaftsexpertin, die von Beruf Tierärztin ist. Sie erinnert daran, dass nach der Wende viele ostdeutsche Brauereien platt gemacht wurden.
Setzt sich die LINKE für bezahlbares Bier ein? Sebastian Walter zögert keine Sekunde: »Auf jeden Fall!« Er möchte übrigens mal bei einer Party im JWP selbst mittendrin sein. Die nächste Gelegenheit wäre das Sommerfest am 24. August, für die Kirsten Tackmann persönlich 250 Euro gespendet hat und ihre Bundestagsfraktion weitere 300 Euro. »Da hast Du keine Zeit«, warnt Kathrin Dannenberg eingedenk des Wahlkampfes. »Zum Feiern habe ich immer Zeit«, kontert Walter keineswegs bierernst. Er zückt seinen Kalender und stellt befriedigt fest, dass er am 24. August nur tagsüber Termine hat. Abends hat er noch Luft. »Passt«, freut er sich.