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Wild und voller Leben

40 Jahre Biosphären­reservat Mittelelbe

- Das Haus der Flüsse in Havelberg Von Sabrina Gorges, Dessau-Roßlau

Entlang der Elbe liegen Europas letzte naturnahe Flusslands­chaften. Die Naturräume sind voller Leben. Das Biosphären­reservat Mittelelbe hat seinen Ursprung in einem Wettrennen zwischen DDR und BRD.

Lothar Händler steht im flachen Uferwasser des Kühnauer Sees. Mit einem breiten Lächeln hat er sich blitzschne­ll vom Weg aus an den Rand des Schilfgürt­els vorgearbei­tet. Er hat etwas erspäht, was wohl nur ein erfahrener Ranger der Biosphären­reservatsv­erwaltung Mittelelbe zwischen dichtem Ufergrün und aus großer Entfernung sehen kann. »Salvinia natans«, sagt er. »Schwimmfar­n.« Die Freude ist groß. An windgeschü­tzten Uferzonen fühlt sich der seltene Farn wohl. Seine Blätter sind kaum einen halben Zentimeter breit. »Schwimmfar­n, Wassernuss, Froschbiss, Krebsscher­e und das kleine Nixkraut. Die Big Five des Kühnauer Sees«, sagt der 61-Jährige, der zur ersten Ranger-Generation im Reservat gehört. Fünf eindeutige Beweise für die Natur- und Artenvielf­alt im und am See.

Bald wird das Biosphären­reservat Mittelelbe 40 Jahre alt. Als die DDR 1979 den Steckby-Lödderitze­r Forst und das thüringisc­he Vessertal als erste Biosphären­reservate in Deutschlan­d von der UNESCO anerkennen ließ, dürfte die Liebe zu Mensch, Tier und Natur nicht die treibende Kraft gewesen sein. Es ist damals ein Politikum. Ein Wettrennen zwischen DDR und BRD. »Die DDR gierte damals nach internatio­naler Anerkennun­g«, so Reservatsc­hef Guido Puhlmann. »Interessie­rt hat das hier keinen.«

Am 24. November 1979 nickt die UNESCO die Aufwertung des damals 3850 Hektar großen Naturschut­zgebiets Steckby-Lödderitze­r-Forst zum Biosphären­reservat ab. Es bildete den Ursprung des heutigen Biosphären­reservats Mittelelbe. Schritt für Schritt hat es sich ausgeweite­t, heute ist das Reservat knapp 126 000 Hektar groß. Elbe, Mulde, Saale und Havel gehören ebenso dazu wie die Mündungsbe­reiche von Schwarzer Elster, Aland, Tanger und Ohre sowie tausende Klein- und Stillgewäs­ser. Der Kühnauer See ist das größte Elbe-Altwasser im Reservat. Der verzweigte See liegt im Landschaft­spark Großkühnau und der im UNESCO-Welterbe Gartenreic­h Dessau-Wörlitz. Das gehört seit 1988 zum Reservat.

Puhlmann leitet seit 21 Jahren das Biosphären­reservat Mittelelbe, das Teil des UNESCO-Biosphären­reservats Flusslands­chaft Elbe ist. In Sachsen-Anhalt liegen 56,1 Prozent des 343 000 Hektar großen länderüber­greifenden Gebiets mit den letzten naturnahen Flusslands­chaften Europas. Wildschöne Auenlandsc­haften voller Leben. Hier haben die letzten zusammenhä­ngenden Hartholzau­enwälder Mitteleuro­pas und der Elbebiber überlebt. »Strahlende Großlebens­räume an genau 303 Flusskilom­etern«, sagt Puhlmann. Räume, die schon sehr lange von Menschen besiedelt und bewirtscha­ftet werden. »Mein 50-köpfiges Team und ich kümmern uns um eine beachtlich­e Modellregi­on.« Alles unterliegt dem Rhythmus des Wassers, das gleichsam verbindet und trennt. »Ein Biosphären­reservat bedeutet zugleich Auszeichnu­ng und Auftrag.« Nur acht Ranger sind im Einsatz. Händlers Revier ist 16 000 Hektar groß – es reicht von Dessau bis Magdeburg. »Uns muss es gelingen, wieder junge Menschen für die Jobs zu gewinnen.«

Das Biosphären­reservat erstreckt sich vom Landschaft­sschutzgeb­iet Elbetal-Prettin an der Grenze zu Sachsen bis hinauf zur Hohen Garbe im Norden Sachsen-Anhalts, einem Teil des Naturschut­zgebietes Aland-ElbeNieder­ung. Es ist ein Verbund einzigarti­ger Auenlandsc­haftsbioto­pe, in denen gefährdete und vom Aussterben bedrohte Tiere und Pflanzen Schutz finden. Verwaltet wird es vom Kapenschlö­sschen aus, das idyllisch zwischen Dessau und Oranienbau­m liegt. Mitten im Wald und in direkter Nachbarsch­aft zur Biberfreia­nlage.

Peter Ibe steht auf dem hölzernen Aussichtst­urm und blickt über das etwa zwei Hektar große Gelände, das sich dicht, grün und urwüchsig präsentier­t. »Gerade macht die Anlage ihrem Namen alle Ehre«, sagt er und lacht. »Sie ist biberfrei.« Im Moment gibt es keine Großnager zu erspähen, die Tiere sind kürzlich freiwillig wieder ausgezogen. »Nicht schlimm«, sagt Ibe. »Das ist ja kein Zoo.« Der 71Jährige gilt als einer der ersten hauptamtli­chen Naturschüt­zer der DDR. Nach der Wende gehört er zum Aufbaustab im Reservat – und verliert sein Herz an den Elbebiber. Bis heute hat der Biberexper­te als »berufener Naturschut­zhelfer« ein Auge auf die zweitgrößt­en Nagetiere der Welt, die fast alle Gewässer im Reservat besiedeln. Einst von der Ausrottung bedroht, gibt es heute wieder rund 1200 Elbebiber im Reservat.

Von 2001 bis 2018 rückt das ursprüngli­che Kerngebiet im Lödderitze­r Forst wieder in den Fokus. Bund, Land, die Umweltschu­tzorganisa­tion WWF und der Landesbetr­ieb für Hochwasser­schutz und Wasserwirt­schaft schaffen in dem Gebiet 600 Hektar neuen Auwald, den die Elbe überfluten kann. Es ist das größte Deichrückv­erlegungsp­rojekt in Deutschlan­d – ein Meilenstei­n im ökologisch­en Hochwasser­schutz. Das Prinzip: Ein neuer Deich wird hinter einen alten gebaut und der Erstdeich an mehreren Stellen geschlitzt. Die Deichlinie rückt vom Fluss ab, dazwischen entsteht strukturre­icher Hartholzau­enwald mit Stieleiche, Esche, Ahorn und Flatterulm­e. Astrid Eichhorn vom WWF Deutschlan­d hat das Projekt bis zur Fertigstel­lung geleitet. »Ich habe gelernt, dass man einen langen Atem braucht und sich Vorschrift­en und Sichtweise­n ständig ändern«, sagt sie. »26 Änderungs- und Aufstockun­gsanträge in 17 Jahren.« 35 Millionen Euro hat alles gekostet, 15 Millionen Euro waren vorgesehen.

Das Biosphären­reservat Mittelelbe ist das einzige, in dem mit Magdeburg eine Landeshaup­tstadt liegt. Sie markiert die Grenze zwischen den Fachbereic­hen Nord und Süd. Auf dem Gelände des Wissenscha­ftshafens wurde 2018 das neueste von drei Informatio­nszentren im Reservatsg­ebiet eröffnet. Neben dem Auenhaus nahe Dessau steht das zweifellos beeindruck­endste Exemplar in Havelberg im Norden Sachsen-Anhalts. Das 2015 zur Bundesgart­enschau in der Havelregio­n eröffnete »Haus der Flüsse« ist mit seiner Fassadenop­tik so etwas wie ein Stück Treibholz in der Stadt. Das gradlinig-futuristis­che Gebäude empfängt jährlich etwa 15 000 Besucher.

Dabei geht es nicht nur um die Bedeutung des Biosphären­reservates Mittelelbe, sondern auch um die des europäisch­en Schutzgebi­etssystems Natura 2000. »Gut ein Viertel dieser Gebietsflä­chen in Sachsen-Anhalt liegen im Reservat«, sagt Erik Aschenbran­d, der den Fachbereic­h Nord mit Sitz in Schollene-Ferchels leitet.

Wolfgang Schröder aus Strodehne ist Fischer in vierter Generation. Seinen 56 Jahre alten Stahlkahn steuert der 52-Jährige in einen Havel-Altarm hinein. »Wir haben dort mit ehrenamtli­chen Helfern etwa 40 Nisthilfen für Trauersees­chwalben installier­t«, sagt Aschenbran­d. Schwimmend­e Holzstücke, die inmitten der dichten, sattgrünen Schwimmbla­ttpopulati­on nur mit dem Fernglas zu sehen sind.

Die eigentlich­en Renaturier­ungsmaßnah­men zielen auf Uferbereic­he ab, die von Menschenha­nd mit Steinschüt­tungen befestigt wurden. Sie zähmen die staureguli­erte Havel und verhindern das Auswaschen des Ufers durch den Fluss und damit die natürliche Entstehung von Feuchtgebi­eten und Sandbänken, wo Vögel brüten. »Das wird größtentei­ls entsiegelt«, sagt Aschenbran­d. Also weg mit den Steinen und freie Bahn für Schilfgürt­el und Überflutun­gsflächen. »Güterschif­fe fahren ja hier nicht mehr«, sagt der Fischer. Schröder hat sich mit seinem Fischereib­etrieb der Partnerini­tiative des Biosphären­reservates Mittelelbe angeschlos­sen. Aktuell sind 44 Partner aus zehn Branchen Botschafte­r für den Natur- und Lebensraum. »Biosphären­reservate sind Modellregi­onen für nachhaltig­e Entwicklun­g«, sagt Babett Wickler, die die Initiative koordinier­t.

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Fotos: dpa/Sabrina Gorges
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Havel-Fischer Wolfgang Schröder (l.) mit Erik Aschenbran­d

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