Die Augen des Krieges
Gewalt, Rassismus, Homophobie, Entfremdung: Ocean Vuongs Roman »Auf Erden sind wir kurz grandios«
Es gibt Bilder, die brennen sich ins Gedächtnis und man wird sie nicht mehr los. So ist es auch mit dem Debütroman des 1988 geborenen Ocean Vuong, »Auf Erden sind wir kurz grandios«: Männer sitzen in einer versifften Garage in Vietnam um einen Tisch, in dem ein Makakenaffe eingeklemmt ist. Sie löffeln sein noch warmes Gehirn, um nicht impotent zu werden. Das ist nur eine von unzähligen Szenen, in denen der mehrfach ausgezeichnete Autor anhand von Tieren das brutale Machtstreben, den Bereicherungswahn oder den Herdentrieb der Menschen symbolisiert: »Von allen Säugetieren ist das Gehirn des Makakenaffen dem menschlichen am ähnlichsten.«
Im ersten Part des dreiteiligen Romans reisen 15 000 Monarchfalter in ihr Winterquartier. »Eine einzige Nacht Frost kann eine ganze Gene
ration auslöschen«, schreibt Vuong, »Leben wird so zu einer Frage der Zeit, des richtigen Zeitpunkts.« So ist der Roman auch immer wieder eine Geschichte der passenden Momente. Beispielsweise, wenn die Großmutter des Ich-Erzählers (»Little Dog«, ein Alter Ego Vuongs), die sich als Prostituierte durch den Vietnamkrieg schlug, seine schmerzhaften Erfahrungen mit Geschichten lindert. Der Großvater kämpfte dort als GI; er ging zur Army, um Trompete spielen zu können. Die gewalttätige Mutter emigrierte mit dem Kleinen und seiner Großmutter, als er zwei Jahre alt war, in die USA. Oder wie er es formuliert: »Ja, es gab einen Krieg. Ja, wir kommen aus seinen Augen.«
Die Gewalterfahrung von »Little Dog« geht in den USA auch außerfamiliär weiter. So wird etwa sein Kopf im Schulbus gegen die Scheibe geschlagen, weil er anders aussieht; es wird vom Fahrrad gestoßen und zusammengeschlagen, weil es pink ist. Fortan fährt er nur noch auf dem Flur des Treppenhauses auf und ab.
Der Versuch der Selbstbetäubung ist ständig präsent, um das Gegenwärtige, das aus der Vergangenheit resultiert, einigermaßen erträglich zu gestalten: durch Drogen, Alkohol, Sex und Geschichten. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das in der US-amerikanischen Verfassung verankerte »Streben nach Glück«, die kapitalistische Mär, alle könnten es vom Tellerwäscher zum Millionär bringen, bei vielen scheitern muss.
Der Erzähler, »Little Dog«, schreibt in diesem Roman einen Brief an seine Mutter. Immer wieder fließen auch seitenlange aphoristische Sequenzen ein, die zwar bereichernd sind, aber den Lesefluss stark hemmen. Die pathetischen Ausführungen gehören zu den wenigen Schwächen des Buches. Nicht so sehr, weil sie den Fluss der Narration zerstören, sondern weil es so wirkt, als hätte Vuong, von Haus aus Lyriker, sie unbedingt noch in den Roman hineinpressen wollen.
Man könnte in Vuong ein US-amerikanisch-vietnamesisches Pendant zum Franzosen Édouard Louis (»Das Ende von Eddy«) sehen – plus Migrationsgeschichte. Denn ihre Lebensgeschichten weisen unübersehbare Parallelen auf: homosexuell, zur Arbeiterklasse gehörend, nach Bourdieu mit geringem kulturellen und ökonomischen Kapital ausgestattet. Und beide haben massive Gewalt durch den Vater/die Mutter erlitten. Dennoch haben sie es geschafft, die Klassengrenzen zu überwinden. Und beide können dem von Jean-Paul Sartre definierten Genre der engagierten Literatur zugerechnet werden.
Denn Vuong benennt Lebensumstände und enthüllt sie damit für die Lesenden, die bestenfalls in ihrer Freiheit der Rezeption Verantwortung dafür übernehmen und sich dagegen engagieren. Etwa wenn er von der Sklavenarbeit in den Nagelstudios berichtet, wo die chemischen Dämpfe Lunge und Leber der dort arbeitenden Vietnamesinnen zerstören. Oder wie die Ausgegrenzten und Ausgebeuteten unterschiedlichster Herkunft zusammen überleben, dort, wo es »gut ist, wenn man weiß, dass es eine Schießerei gegeben hat und dass es dein Bruder war, der wieder heimkam und bereits neben dir saß«.
Vuongs Debütroman ist von großer ästhetischer Wucht, ein Buch voller Körperlichkeit, gefüllt mit der Gewalt und den Narben des Krieges in Vietnam und den USA, mit seinem alltäglichen Rassismus, der Homophobie und der Entfremdung. Das Überleben scheint dem Autor vor allem zu gelingen, weil er in der Literatur, in der Sprache eine Zuflucht findet.
Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios. Roman. A. d. Engl. v. AnneKristin Mittag. Hanser, 237 S., geb., 22 €.