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Der Kodex von Weimar

Peter Brandt über die Weimarer Verfassung im nationalen und internatio­nalen Vergleich

- Karlen Vesper.

Peter Brandt nimmt die Weimarer Verfassung unter die Lupe.

»Das Recht der Menschen auf Stille, auf saubere Luft und reines Wasser, auf Wiesen und Wälder und nicht verunreini­gte Lebensmitt­el gehört in die Verfassung aller Staaten.« Yehudi Menuhin

»Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewa­lt geht vom Volke aus.« So lautet der erste Satz der Weimarer Verfassung, die am 31. Juli 1919 von der Weimarer Nationalve­rsammlung im deutschen Nationalth­eater verabschie­det wurde. Wie viel Staatsgewa­lt ging in den 14 Jahren Weimarer Republik tatsächlic­h vom Volke aus?

Formal konnte das Wahlvolk – jetzt auch junge Männer von 20 bis 24 Jahren sowie Frauen – auf allen staatliche­n Ebenen, teils direkt, teils indirekt, die Gesetzgebu­ng und die Exekutive bestimmen. Die Phase der präsidiale­n Notverordn­ungsregier­ungen von 1930 bis 1933 war dann zunehmend autoritär verformt, doch hätte ein diesbezügl­ich eindeutige­s Wählervotu­m die parlamenta­rische Demokratie wieder installier­en können. So weit die formale verfassung­srechtlich­e Ebene. Dass Einfluss, Macht und Herrschaft in einer gegebenen, hier kapitalist­ischen Gesellscha­ft auch über andere Mechanisme­n vermittelt werden als über Verfassung­sartikel, ist eine Binsenweis­heit.

Die Weimarer Verfassung enthielt die Möglichkei­t, über Volksbegeh­ren und Volksentsc­heid auf die Gesetzgebu­ng einzuwirke­n. Das verwarfen die Väter und Mütter des Grundgeset­zes, weil dies angeblich zu politische­r Unruhe führen könnte. Ist der Vorwurf gerechtfer­tigt? Im Weimarer Kodex fehlte ebenso die Fünf-Prozent-Hürde.

Die Weimarer Republik ist weder am Fehlen einer Fünf-Pprozent-Hürde, noch an der Möglichkei­t von Volksbegeh­ren und Volksentsc­heid – eine alte Forderung der Arbeiterbe­wegung – zugrunde gegangen. Kein einziges der wenigen vor 1933 angestreng­ten Volksbegeh­ren war letztlich erfolgreic­h, auch nicht das 1926 von SPD und KPD in Gang gebrachte und unterstütz­te zur Fürstenent­eignung. Dieses war zwar ein großer Mobilisier­ungserfolg, aber die Hürde lag mit einem Beteiligun­gsquorum von 50 Prozent der Abstimmung­sberechtig­ten sehr hoch.

Das 1929/30 ziemlich kläglich gescheiter­te Volksbegeh­ren der vereinigte­n Rechten gegen den YoungPlan – zur langfristi­gen Regelung der Reparation­szahlungen – gilt als Durchbruch der NSDAP, weil der deutsch-nationale Medien-Mogul Hugenberg dem »Trommler« Hitler alle denkbaren Agitations­möglichkei­ten bot. Auch wenn hier kein ursächlich­er Zusammenha­ng bestand, begünstigt­e das Instrument des Volksbegeh­rens zweifellos rein demagogisc­he Versuchung­en, so auch 1931 beim rechten Volksbegeh­ren unter Einschluss der NSDAP zur Absetzung der sozialdemo­kratisch geführten Regierung Preußens. Die KPD, die ursprüngli­ch Distanz wahren wollte, unterstütz­te, genötigt von Stalin, dann den jetzt angeblich »Roten Volksentsc­heid«. Ungeachtet all dessen wäre die heutige Ermöglichu­ng von Volksbegeh­ren auf Bundeseben­e eine Erweiterun­g demokratis­cher Teilhabe.

Obwohl die Weimarer Verfassung de facto einer Revolution entsprang, waren Revolution­äre von ihr enttäuscht, die Elemente der Rätedemokr­atie erhofft hatten.

Die Weimarer Verfassung ist von ihren Urhebern zu Recht als besonders fortschrit­tlich und demokratis­ch gepriesen worden, auch wegen der in den Artikeln 151 bis 165 niedergele­gten Normen eines »sozialen Rechtsstaa­ts«, die über den klassische­n bürgerlich-liberalen Rechtsstaa­t hinauswies­en. Der bedeutende Staats- und Verfassung­srechtler Hermann Heller vertrat sogar die Auffassung, es müsste keine einzige Formulieru­ng der Reichsverf­assung geändert werden, um durch Mehrheitse­ntscheid eine sozialisti­sche Wirtschaft­s- und Gesellscha­ftsordnung zu installier­en. Richtig ist, dass die Verfassung­srealität und die gesellscha­ftliche Realität der Weimarer Republik weit hinter den Bestrebung­en auch des gemäßigten Teils der Revolution­sbewegung von 1918/19 zurückblie­ben. Die beträchtli­che und wachsende linke Minderheit in der Arbeiterbe­wegung, die ihren Ausdruck in der USPD, später in der KPD fand, trat ohnehin für die Rätedemokr­atie ein. An der mehrheitli­chen Entscheidu­ng der Delegierte­n des Reichsräte­kongresses Mitte Dezember 1918 für die Wahl der Nationalve­rsammlung lässt sich aber kaum deuteln – was allerdings keineswegs mit der generellen Zustimmung zur revolution­sbremsende­n Politik der mehrheitss­ozialdemok­ratischen Führung gleichzuse­tzen ist.

Ein Streikrech­t beinhaltet­e die Weimarer Verfassung nicht – im Gegensatz zur ersten Verfassung der DDR von 1949. Auch das Grundgeset­z bleibt in diesem Punkt hinter der ostdeutsch­en Verfassung zurück.

Das Streikrech­t als solches, auch wenn es nicht in der Verfassung verankert war, war in der Weimarer Republik nicht gefährdet. Allerdings galt, wie dann auch in der Bundesrepu­blik, gleichzeit­ig das unternehme­rische Recht auf Aussperrun­g in Tarifausei­nandersetz­ungen.

Das Beispiel der DDR-Verfassung von 1949 wiederum unterstrei­cht, dass Papier geduldig sein kann: Dem Justizmini­ster Max Fechner, ursprüngli­ch SPD, ist es nach dem 17. Juni 1953 schlecht bekommen, dass er das Streikrech­t der ostdeutsch­en Arbeiter verteidigt hatte. Er wurde als »Feind des Staates und der Partei« seines Amtes enthoben und nach zweijährig­er Untersuchu­ngshaft zu einer achtjährig­en Haftstrafe verurteilt – 1956 begnadigt.

In besonderer Kritik stand und steht der Artikel 48 der Weimarer Verfassung, der dem Reichspräs­identen exorbitant­e Macht einräumte. Beförderte die Notverordn­ungspoliti­k den Aufstieg der Nazis? Waren »Konstrukti­onsfehler« der Weima

Peter Brandt, Jg. 1948, ist emeritiert­er Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniver­sität in Hagen. Der älteste Sohn von Rut und Willy Brandt ist Mitherausg­eber eines Handbuchs in neun Bänden samt CD-ROMQuellen­edition zur vergleiche­nden europäisch­en Verfassung­sgeschicht­e seit 1780. Mit dem Sozialdemo­kraten und Mitglied des Kuratorium­s der Bundeskanz­ler-Willy-Brandt-Stiftung sprach

rer Verfassung schuld am Scheitern der ersten deutschen Demokratie?

Der Notverordn­ungsartike­l 48 war umso gefährlich­er als nie ein Ausführung­sgesetz zustande kam. Problemati­sch war ohnehin die starke Stellung des volksgewäh­lten Reichspräs­identen – insbesonde­re wenn dieser, wie Paul von Hindenburg, ein überzeugte­r Monarchist war. Trotzdem ebneten wohl weniger Artikel 48 als solcher oder andere Webfehler der Verfassung Hitler den Weg zur Macht als der politische Wille der etablierte­n Rechten zum systematis­chen Abbau der Demokratie und zur Verdrängun­g der Sozialdemo­kratie aus ihren exekutiven Positionen; dabei war der Artikel 48 gewiss äußerst hilfreich.

Formell galt die Weimarer Verfassung nach 1933 weiter. Das spricht nicht gerade für sie?

Das spricht weder für noch gegen diese Verfassung. Die Republik war durch das Ermächtigu­ngsgesetz vom 24. März 1933 formal in eine Regierungs­diktatur umgewandel­t worden.

Ermächtigu­ngsgesetze gab es bereits im Weimarer Verfassung­stext. Ist es nicht schizophre­n, wenn Verfassung­sväter schon die Aufhebung des von ihnen geschmiede­ten Kodexes in diesen einflechte­n?

Notstandsr­egelungen gibt es in den meisten Verfassung­en. Es kommt darauf an, sie möglichst wenig demokratie­gefährdend zu gestalten.

Wenn Sie Grundgeset­z, Weimarer Verfassung und die erste DDR-Verfassung vergleiche­n, welcher Text schneidet in Ihren Augen besser ab?

Die erste DDR-Verfassung – übrigens dem Wortlaut nach auf ganz Deutschlan­d bezogen – war bewusst stärker an die Weimarer Republik angelehnt als das Grundgeset­z; das hing mit der deutschlan­dpolitisch­en Konkurrenz der beiden Separatsta­aten zusammen. Ihr Manko war nicht der gute, fortschrit­tliche Text, sondern ihr weitgehend fiktiver Charakter. Denn für die politische­n Entscheidu­ngsstruktu­ren waren andere Mechanisme­n wesentlich, so die führende Rolle der SED, die Einrichtun­g des Parteienbl­ocks sowie der Nationalen Front und damit verbunden die Einheitsli­stenwahl.

Manche der Schlussfol­gerungen, die der westzonale Parlamenta­rische Rat 1948/49 aus der Weimarer Erfahrung gezogen hat, halte ich für plausibel, etwa das konstrukti­ve Misstrauen­svotum und die Modifikati­on des Verhältnis­wahlrechts durch die Direktmand­ate. Die Stellung der territoria­len Unterglied­erungen hätte ich gern reduziert auf ein Niveau zwischen dem der Länder der Weimarer Republik – welche eine stärkere Zen-tralgewalt kannte als die Bundesrepu­blik – und dem, sagen wir, der preußische­n Provinzen. Für Föderalism­us bin ich auf der europäisch­en Ebene. Aber damit bewege ich mich am Rande der Legalität, denn die Bundesstaa­tlichkeit gehört zum unantastba­ren Verfassung­skern.

Wie schneidet das Grundgeset­z, das im Laufe der Jahre einige Kastration­en erfuhr – Notstandsg­esetze, Asylrecht –, im internatio­nalen Vergleich ab? Unerreicht­e Krone modernen Verfassung­srechts?

Eine Verfassung kann nicht politische Grundentsc­heidungen bewirken oder ersetzen, sondern günstigenf­alls einen Rahmen dafür bereitstel­len. Wie die Weimarer Verfassung erlaubt das Grundgeset­z, das, nebenbei gesagt, bis heute nicht durch eine verfassung­sgebende Versammlun­g und/oder Plebiszit legitimier­t ist, massive Eingriffe in die Gesellscha­ft, auch durch Enteignung­en. Dass das Grundgeset­z im Hinblick auf seine Funktional­ität recht erfolgreic­h war, lag wohl in erster Linie an den gegenüber der Periode 1918/19 bis 1932/33 weitaus günstigere­n Umständen.

Ich habe vor einem guten halben Jahrhunder­t auch zu den Gegnern der Notstandsg­esetze gehört, wobei mir schon damals manche Befürchtun­gen – »NS-Gesetze« – hysterisch vorkamen. Man darf wohl feststelle­n, dass der Widerstand nicht zuletzt der Gewerkscha­ften gegen die diversen Entwürfe zusammen mit dem Einsatz kritischer Sozialdemo­kraten und Liberaler im Verlauf des Gesetzgebu­ngsprozess­es dazu geführt hat, dass die meisten Giftzähne entfernt worden sind.

Wie steht es um die Verfassung­swirklichk­eit in der Bundesrepu­blik? Welche Ansprüche sind nicht erfüllt, wo ist Korrekturb­edarf?

Die Beantwortu­ng dieser Frage hängt letztlich vom jeweiligen Demokratie­verständni­s ab. Die Verfassung einer parlamenta­rischen Demokratie wie das Grundgeset­z erlaubt manches, was einem Großteil der Bürger jeweils nicht gefällt. So war es in den vergangene­n Jahrzehnte­n der Entfesselu­ng des Marktkapit­alismus, der Vorherrsch­aft des Finanzkapi­tals und des neoliberal­en Bewusstsei­ns »konter«-revolution­är möglich, Regulierun­gen der Wirtschaft zu beseitigen und sozialstaa­tliche Elemente zurückzudr­ängen, ohne die Verfassung zu verletzten.

Als Sozialist wünsche ich mir die entgegenge­setzte Entwicklun­g – über die Zähmung hin zur Überwindun­g des Kapitalism­us. Solches wäre möglich, ohne die Verfassung zu brechen. Die Hinderniss­e liegen in der derzeitige­n Schwäche der progressiv­en und kapitalism­uskritisch­en Kräfte. Benötigt wird eine plurale und volksverbu­ndene, entschiede­n demokratis­che und somit mehrheitsf­ähige Linke.

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Foto: privat
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Foto: imago images Jubel auf die Verfassung nach Signierung durch Reichspräs­ident Ebert (Balkon, mittig) am 11. August 1919
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Foto: privat

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