Alt und kreativ
Dank der Kreativität seiner Bewohner hat Ogijima in alternder Gesellschaft eine demografische Wende erreicht
Auf Japans Insel Ogijima fährt man Onba und neckt die Demografie.
Führt Japans stark alternde Bevölkerung das Land perspektivisch in den Stillstand? Auf einer fast entvölkerten Insel beweisen Senioren mit jugendlichen Spielereien das Gegenteil. Und nicht nur dort.
Auf den ersten Blick wirkt der mit Gras bedeckte Hof vor der Werkstatt von Yoshifumi Oshima wie ein Kindergarten. Hier parkt eine Lokomotive, dort ein Rennwagen, wenige Meter weiter ein LKW – alle sind höchstens einen Meter hoch und mit einem Bügel ausgestattet, womit sich die Gefährte anschieben lassen. Nur dienen die Dinger nicht als Spielzeuge. »Für uns sind das quasi Autos«, doziert der ältere Herr in Biolatschen und schlabbrigem T-Shirt. Mit »uns« meint er die Insel Ogijima, und für Autos erklärt er die Wägelchen deshalb, weil die Straßen hier für echte motorisierte Fahrzeuge viel zu eng und steil wären. »Deswegen fahren wir auf Ogijima eigentlich nur Onba.«
Zwar werden die Onba, wie man diese Mischungen aus Rollator, Bobbycar und Einkaufswagen hier nennt, von niemandem wirklich gefahren, höchstens den Berg heraufgezogen. Aber gerade deshalb sind die Gefährte auf dem hügeligen und dicht bebauten Ogijima unverzichtbar. »Hier leben vor allem alte Menschen«, sagt der 64-jährige Künstler Yoshifumi Oshima und zeigt von seinem gut besuchten Hof aus auf die Straße, die steil bergab Richtung Küste führt. »Ohne ein Onba könnten die meisten unserer Bewohner niemals ihre Einkäufe oder Handtaschen nach oben zum Haus tragen. Wir können hier gar nicht mehr leben ohne die Onba.«
Die Gefährte sind viel mehr als nur Transportmittel. Auf der 168-Einwohner-Insel Ogijima, die um die Jahrtausendwende noch fast doppelt so viel Menschen zählte, halten die bunt und kindlich designten Wägelchen als so etwas wie ein Lebensbeweis her. Das zeigt sich derzeit im Rahmen der Setouchi Triennale, einer Serie moderner Kunstausstellungen auf einem Dutzend kleinerer Inseln im Süden Japans, die noch bis Anfang November laufen. In diversen, ansonsten verlassenen Häusern werden unter anderem auf Ogijima, das nur eine Fläche von 1,34 Quadratkilometern hat, verschiedenste Werke ausgestellt.
Da simulieren in einer Hütte mit Meerblick und Tatamimatten an Fäden befestigte Porzellanblumen die Wellen des Ozeans. Die aus dem Fenster hereinwehende Brise sorgt für eine Art klimperndes und rasselndes Meeresrauschen. Anderswo wurde ein einstiges Wohnhaus mit reichlich Spiegeln und Tapeten in psychedelischen Flowerpower-Mustern ausgestattet. Man wähnt sich in den 1970er Jahren, als Japans Wirtschaft noch boomte.
Ein paar Häuser weiter hängen von der Decke bis zum Boden kleine Glasbehälter, die mit je einem Gegenstand gefüllt sind. Sie stellten für einen Bewohner wichtige Momente in seinem Leben dar. Es reicht von Hochzeitsfotos über ein erstes Ticket fürs Baseballstadion bis zu Schnullern. Für Melancholie ist auf dem engen Ogijima reichlich Platz.
Zu einem der Publikumsmagneten der gesamten Triennale aber gehören die beschwinglichen Onba. An einem regnerischen Nachmittag turnen Kinder an den Gefährten herum, Erwachsene schießen Selfies mit den Onba. Immerhin sind sie zum Symbol von Ogijima geworden.
Yoshifumi Oshima, der das ganze Jahr über hier sein Atelier führt, die Wagen bemalt und repariert, meint die Gründe zu kennen. Als er im Jahr 2010 aus der 45 Bootsminuten entfernten Festlandstadt Takamatsu hierher zog, um sich damals auf die erste Auflage der Setouichi Triennale vorzubereiten, wunderte er sich noch über diese aktiven Alten mit ihren Wagen im Schlepptau. »Demografisch gesehen, war es hier Jahr für Jahr das gleiche Bild, sagte man mir: Die jüngeren Leute zogen zum Kinderkriegen aufs Festland, die Alten blieben zurück«, erinnert sich Oshima. »2013 wohnte hier dann kein einziges Kind mehr, die Grundschule machte dicht.«
Denn was hat eine kleine Insel im Vergleich zu großen Städten schon zu bieten? Doch die zurückgelassenen Senioren, die auch schon kein Café oder Buchgeschäft mehr im Ort hatten, suchten sich offenbar Ersatzbeschäftigungen. »Hier schien wirklich nicht mehr viel los zu sein. Aber fast alle Leute bauten sich diese Wagen, die Onba, und führten sie durch den Ort. Es war irgendwie eine Art Wettbewerb um die schönsten Wagen entbrannt.« Als bildender Künstler bot Yoshifumi Oshima den Leuten an, ihre Onba mit Schnitzereien, Bemalungen und Reparaturen etwas aufzuhübschen.
Was zuerst mit Misstrauen quittiert wurde, mauserte sich bald zum Kusthandwerk. Heute verkauft Oshima auf seinem Hof seine eigenen selbstgebauten Onba für bis zu 100 000 Yen (ca. 825 Euro) sowie für eine Provision auch alte Modelle anderer Bewohner. Vor allem aber werden die Gefährte mittlerweile auch jenseits der kleinen Insel ausgestellt, Liebhaber von außerhalb sind sogar schon Sammler geworden.
Auf dem Hof fragt eine vom Festland angereiste mittelalte Frau nach dem Preis eines Gefährts im Outfit eines Krankenwagens. »Ich finde das toll«, erklärt sie der Verkäuferin in einer Art Mini-Fuhrpark. »Das Design ist so kindlich, obwohl es von einem alten Menschen gemacht wurde.« Auf einer alternden Insel so viel jugendlichen Ideenreichtum zu finden, mache sie optimistisch für das eigene Altern.
Die Insel Ogijima ist mit ihrem hohen Altenanteil zwar ein demografischer Extremfall, repräsentativ für Japan ist sie auf eine Weise aber trotzdem. Schließlich ist weltweit die Bevölkerung nirgends so alt wie in dem ostasiatischen Land. Der Babyboom nach dem Krieg dauerte hier nur von 1947 bis 1949, der darauf folgende Fall der Geburtenrate kam abrupt. Ähnlich wie in Deutschland verharrt die Fertilitätsrate auch seit Jahrzehnten bei ungefähr 1,4 Kindern pro Frau, unter anderem, weil der Staat Familien kaum unterstützt. So altert die Gesellschaft als ganze schon über Jahrzehnte.
Der demografische Wandel wird beschleunigt durch die dank guter Gesundheitspolitik immerzu steigende Lebenserwartung – mit durchschnittlich 84 Jahren haben Menschen in Japan derzeit das längste Leben auf der Welt. Zudem gibt es im Land kaum Immigration junger Menschen, die den Altersdurchschnitt senken würde. So sind schon heute mehr als 25 Prozent der Einwohner im Land älter als 65. Bis 2050 werden es laut Hochrechnungen vier von zehn sein. Alle Industrieländer folgen diesem Trend, doch Japan führt ihn an. Und innerhalb Japans gehört Ogijima zu den Spitzenreitern.
Als Folgen demografischer Alterung– neben den höheren Kosten für Gesundheits- und Rentensysteme – wird oft wirtschaftlicher und kultureller Stillstand genannt. Schließlich schrumpft die Arbeitsbevölkerung und damit meist auch die wirtschaftliche Notwendigkeit oder der Antrieb, noch Neues zu leisten. Doch bei genauerem Hinsehen, das lehrt die Erfahrung aus Japan, trifft das Vorurteil der Stagnation durch Alterung nicht so recht zu.
In den letzten Jahren erlebten Japans Wirtschaft und Kultur immer wieder Befruchtungen, die von Senioren ausgingen. Da ist der Ingenieur, der eine Roboterpuppe für senile Menschen entwarf, die nun auch als Spielzeug für Kinder gilt. Oder die 82Jährige, die als Rentnerin das Internet kennenlernte und dann ein solitärartiges App-Game entwickelte. Oder all die älteren User, die auf der beliebten Online-Freizeitplattform Cyta, wo Hobbys oder Workshops gesucht und angeboten werden, die Aktivität maßgeblich mit ihren Kursen zu Fotografie, Jonglierkunst oder Redenhalten zum Wachsen bringen.
Und so ähnlich ist es auch auf Ogijima. Denn einerseits sind viele weitere Künstler, die hier während der Setouchi Triennale ihre Arbeiten ausstellen, schon seit längerem jenseits der 60. Andererseits sind gerade die Onba ein Zeugnis von Kreativität im hohen Alter. Hinzu kommt, dass sich hier eine von engagierten Senioren befeuerte, kleine demografische Sensation ereignet hat. »In den letzten Jahren haben wir viel Werbung für die Insel gemacht«, sagt Yoshifumi Oshima auf seinem Hof. »Mit unseren Ausstellungen konnten wir auch jüngere Menschen anziehen, die hier Kunst selbst machen oder unterstützen wollten.«
So haben sich zunächst kunstaffine Eltern hier angesiedelt, die für ihren Nachwuchs einen Kindergarten öffneten und damit wiederum weitere Familien dazu ermutigten herzuziehen. Und diese nun lebendige Kunstszene, die auch jenseits der Triennale aktiv bleibt, hat bis heute Magnetwirkung. Schließlich genießt die Insel mittlerweile landesweit einen Ruf als ruhiger Ort mit Geschmack für Kreativität. Heute liegt der Altersdurchschnitt bei 61 Jahren – acht Jahre weniger als noch im Jahr 2009. Wohlgemerkt: Bei einer Bevölkerung von weniger als 200 Personen übt schon eine Handvoll Familien einen merklichen Einfluss auf die Bevölkerungsstruktur aus. Trotzdem kann Ogijima wohl von sich behaupten, in Japans alternder Gesellschaft eine einzigartige demografische Kehrtwende erreicht zu haben. Yoshifumi Oshima macht das froh. Als er zu Anfang des Jahrzehnts 55-jährig hierherzog, lag er damit noch deutlich unterm Altersdurchschnitt. Und er dachte, er würde das noch lange bleiben.
»Hätten wir die Verjüngungskur der letzten Jahre nicht erreicht, wäre ich noch heute einer der Jüngeren im Ort. So zähle ich endlich zu den Älteren.« Als Oshima das sagt, blickt er auf seinem Hof um sich. Links steht ein Onba in Gestalt eines Segelschiffs, unterm Giebel der Scheune gegenüber hat er ein kinderwagenartiges Gefährt aufgehängt. Ein Stück weiter parkt eine vermeintliche Rakete. Yoshifumi Oshima fühlt sich wohl peinlich berührt: »Naja«, sagt er, »egal wie alt du wirst, das Kind tief drinnen bleibt am Leben.«
Und das sei auch für andere nützlich: »Wenn mein Enkel vom Festland kommt, freut er sich immer auf die Onba.« Dann nämlich werde aus den Transportmitteln und Kunstwerken doch mal ein Spielzeug.
Die Reise für diese Recherche wurde von der Setouchi Travel Agency finanziert. Es wurde kein Einfluss auf den Inhalt des Textes genommen.
In den letzten Jahren erlebten Japans Wirtschaft und Kultur immer wieder Befruchtungen, die von Senioren ausgingen. In Ogijima ereignete sich eine kleine Sensation. Dank der dortigen Ausstellung siedelten sich auch Jüngere an, die hier Kunst machen oder unterstützen wollen.