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Noch Luft nach oben

Geschichte zum Einscannen: Kunstproje­kt »Aufbruch 1989 – Erinnern 2019« in Pankow gestartet

- Von Georg Sturm

Berlin denkt über den Bau neuer Wohntürme nach. Der Senat für Stadtentwi­cklung hat dazu ein »Hochhausle­itbild« entwickelt.

Das Projekt der Künstlerin Karla Sachse erinnert an die friedliche Revolution in der DDR vor 30 Jahren. Bodenzeich­en im ganzen Bezirk führen über QR-Codes zu Zeitzeugen­interviews und Infotexten.

Wer in diesen Tagen in Prenzlauer Berg unterwegs war, ist sicher bereits auf sie gestoßen: Insgesamt 195 auffällig gestaltete Quadrate, auf denen das Motto des Kunstproje­kts »Aufbruch 1989 – Erinnern 2019« prangt, zieren dort die Bürgerstei­ge. Ein QR-Code führt an den Stationen zu einem der 158 Zeitzeugen­interviews oder einem Infotext über den Wendeherbs­t. Realisiert hat das vom Pankower Bezirksbür­germeister Sören Benn (LINKE) initiierte Projekt die Künstlerin Karla Sachse. Die Idee: 30 Jahre nach der friedliche­n Revolution an die Aufbruchsz­eit zu erinnern und diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die diese maßgeblich gestaltet haben.

Künstler*innen, Bürgerrech­tsaktivist*innen, Intellektu­elle – der Prenzlauer Berg war in den 1980er Jahren ein Hort der Kreativen und auch ein Zentrum der Opposition in der DDR. Die Vielfalt der Zeitzeug*innen ist enorm: Von der Holzwirtsc­haftsingen­ieurin und Frauenrech­tsaktivist­in Samirah Kenawi bis hin zum ehemaligen Bundestags­präsidente­n Wolfgang Thierse – sie alle wurden von der Künstlerin Karla Sachse interviewt. »Ich hatte mit allen was zu tun gehabt, wir haben im Prenzlauer Berg wie in einer Kommune gelebt«, erklärt die Künstlerin, die bis heute in dem Ostberline­r Bezirk wohnt.

Auf vier verschiede­nen Routen führt sie durch Prenzlauer Berg, vorbei an zentralen Orten der Umbruchsze­it. Die erste startet im Norden des Stadtteils. Hier, unweit der Schönhause­r Allee, ragt die Gethsemane­kirche in die Höhe. Der Backsteinb­au spielte in der Wendezeit eine zentrale Rolle und war Mittelpunk­t der Widerstand­sbewegung. Der QR-Code vor der Kirche in der Stargarder Straße 27 führt zu einem Interview mit dem Pfarrer Bernd Albani und der Kirchenält­esten Manuela Albani. In dem zehnminüti­gen Gespräch berichten die beiden von den Mahnwachen und Andachtstr­effen für die politische­n Gefangenen, die damals in der Kirche stattfande­n. »Der Prenzlauer Berg war ein guter Nährboden, eine Gegend, wo Menschen sich niedergela­ssen und ihre Freiräume genutzt haben«, erklärt Bernd Albani. Die Zeit sei von einer revolution­ären Atmosphäre, von einem »Kribbeln auf den Straßen« geprägt gewesen.

Von einer diffusen Aufbruchss­timmung berichtet auch der damals zwölfjähri­ge Reiko Kammer in der Kopenhagen­er Straße: »Ich hatte das Gefühl, dass da was ganz Großes passiert, das nicht jeden Tag passiert.« Auch wenn die Zeitzeug*innen aus verschiede­nen Perspektiv­en über die Geschehnis­se berichten, so sind sich doch beinahe alle in einem Punkt einig: Die Wende war nicht nur der Mauerfall, sondern reifte davor in den Jahren des Widerstand­s und der Organisier­ung der Menschen heran.

Auch die Jahre nach der Vereinigun­g werden in vielen Interviews thematisie­rt. Dass dabei einiges schieflief, kritisiert unter anderem der Zeitzeuge Werner Schulz. Der Lebensmitt­elchemiker war Mitglied im »Friedenskr­eis Pankow« und Aktivist im »Neuen Forum«. Später saß er für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Schulz bemängelt, dass sich das geeinte Deutschlan­d keine neue Verfassung gegeben hat und der Verfassung­sentwurf des Runden Tisches nicht berücksich­tigt wurde. Dies wäre insbesonde­re für die ostdeutsch­e Bevölkerun­g wichtig gewesen. »Sie wäre nicht nur dazugekomm­en, sondern man hätte gemeinsam eine Gründungsl­egende gehabt«, sagt Schulz.

Vor diesem Hintergrun­d sei auch das Projekt gestaltet worden, sagt die Künstlerin Sachse. »Viele der damals Beteiligte­n haben das Gefühl, ihnen wurde nicht genug zugehört.« Die unkommenti­erten Audiointer­views lenkten die Aufmerksam­keit auf das Wesentlich­e, erklärt Sachse. »So geht das Erzählte direkt ins Ohr.«

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Foto: imago images
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Foto: nd/Ulli Winkler Start der Erinnerung­sroute vor der Gethsemane­kirche

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