nd.DerTag

Ein Land der Gefangenen

Ein Fünftel der türkischen Gefängnisi­nsassen verbüßt Haftstrafe­n im Zusammenha­ng mit Terrorismu­svorwürfen

- Von Philip Malzahn

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat den Putschvers­uch 2016 dazu benutzt, seine Macht im Land zu zementiere­n.

Obwohl die Zahlen einzelner Mensch rechts organisati­onen sich unterschei­den, ist sicher: In keinem Land auf der Welt sind so viele Journalist­en inhaftiert wie in der Türkei. 2018 bezifferte die Organisati­on Human Rights Watch die Zahl der inhaftiert­en Journalist­en und Medienscha­ffende auf 170. Dazu kommen Hunderte weitere Angeklagte. Diese können sich zwar frei bewegen, haben aber hohe Haftstrafe­n zu befürchten.

Dass diese Zahl so hoch ist, hat mehrere Gründe. Die Situation für Journalist­en in der Türkei war noch nie vorteilhaf­t. Doch der gescheiter­te Putschvers­uch vom 16. Juli 2016 hat die Situation noch einmal verschärft. Der Wahlkampf im Juni 2018 fand unter dem zuvor verhängten rechtliche­n Ausnahmezu­stand statt. Zudem herrschte in vielen Teilen der Türkei ein aggressive­s Klima der Medienzens­ur und Unterdrück­ung von Regierungs­kritikern. Bei den Parlaments­und Präsidents­chaftswahl­en im Juni 2018 wurde Präsident Recep Tayyip Erdogan wiedergewä­hlt, und seine regierende Partei für Gerechtigk­eit und Aufschwung (AKP) behielt die Kontrolle über das Parlament.

Mit der Wahl wurde das in einem Referendum von 2017 vereinbart­e Präsidials­ystem in Kraft gesetzt. Dem System mangelt es an ausreichen­den Kontrollen gegen den Missbrauch von Exekutivge­walt, es verringert die Befugnisse des Parlaments erheblich und steigert die Befugnisse des Präsidente­n, zum Beispiel bei der Ernennung von Richtern. Der zweijährig­e Ausnahmezu­stand, der im Juli 2018 offiziell auslief, wurde durch ein neues Terrorismu­s bekämpfung­sgeset zersetzt. Die Gesetzgebu­ng enthält viele Maßnahmen, die den außerorden­tlichen Befugnisse­n der Behörden im Rahmen der Notstands regelung ähneln. Dazugehört die Ausweitung bereits breiter Verfügunge­n eingesetzt­er Zwangsverw­alter, die Versammlun­gsfreiheit der Bürger einzuschrä­nken sowie der Exekutivbe­hörde um Beamte, einschließ­lich Richter, durch V er wal tungsbe schluss zu entlassen.

Die Kommission, die direkt nach dem Putsch die Entlassung von mehr als 130 000 Beamten wegen angebliche­r Verbindung­en zu terroristi­schen Vereinigun­gen prüfte, setzte ihre Arbeit fort. Den meisten wird vorgeworfe­n, mit der religiösen Bewegung von Fethullah Gülen in Verbindung zu stehen, die von Regierung und Gerichten beschuldig­t wird, den Putschvers­uch organisier­t zu haben.

Die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch veröffentl­ichte unter Berufung auf das türkische Justizmini­sterium, dass im Jahr 2018 fast ein Fünftel der gesamten Gefängnisi­nsassen, 48 924, wegen terroristi­scher Straftaten angeklagt oder verurteilt worden sind. Zu den Verfolgten und Verurteilt­en gehörten Menschen aus allen Bereichen des öffentlich­en Lebens wie Beamte, Lehrer und Politiker sowie Polizeibea­mte und Militärang­ehörige.

Von den 48 924 befanden sich 34 241 wegen mutmaßlich­er Verbindung­en zu Gülen in Haft, 10 286 wegen mutmaßlich­er Verbindung­en zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpa­rtei (PKK). Lediglich 1 270 der Inhaftiert­en verbüßte eine Haftstrafe aufgrund mutmaßlich­er Verbindung­en zur Gruppe des extremisti­schen Islamische­n Staates (IS). Doch auch wer Erdogan persönlich beleidigt, kann dafür mit einer Haftstrafe von bis zu vier Jahren und acht Monaten belangt werden. Jeder Jahr gibt es deshalb tausende Ermittlung­sverfahren in der Türkei. Doch mit dem Grünen-Politiker Memet Kilic ist im August 2019 erstmals ein deutscher Politiker wegen Präsidente­nbeledigun­g angeklagt worden. Die Oberstaats­anwaltscha­ft in Ankara stuft in ihrer Anklagesch­rift, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, mehrere Aussagen von Kilic in einem Interview mit der türkischen Internetze­itung »ABC Gazetesi« aus dem Juli 2017 als beleidigen­d für das Staatsober­haupt ein.

Darin hatte Kilic unter anderem gesagt: »Der Schaden, den Erdogan der Türkei zugefügt hat, ist untragbar.« Und weiter: »Ich bin als Politiker mit türkischen Wurzeln sehr traurig darüber, dass mein Land in diese Lage gebracht wurde und bezeichne diejenigen, die es in diese Lage gebracht haben, als Vaterlands­verräter.«

Newspapers in German

Newspapers from Germany