Bewegung vor der Therapiebank
Heilmittelverbände wollen Berufsstand aufwerten und Vergütung verbessern
Zu ihrem zweiten Kongress trafen sich Physio-, Ergo- und Logotherapeuten sowie Podologen in Berlin. Sie wollen in Zukunft Patienten auch ohne ärztliche Überweisung behandeln.
Dea Heibel ist eine temperamentvolle Frau. Seit 1995 betreibt die 54-jährige Logopädin eine Praxis für Sprachtherapie in Köln. Sie hat Zeiten erlebt, in denen sie als Hartz-IVBezieherin mehr verdient hätte als in ihrem eigenen Beruf, für den sie immerhin an einer Hochschule ausgebildet wurde. Es habe sich, so sagt sie, im letzten Jahr mehr verändert als in 20 Jahren zuvor. Die Vergütung sei gestiegen, die Zulassungsbedingungen bei den Krankenkassen seien übersichtlicher geworden, der Verband habe mit Unterstützung von Bundestagsabgeordneten der SPD, CDU und LINKEN einen vereinfachten Zugang zum Therapeuten auf den Weg gebracht, die sogenannte Blankoverordnung. Bei dieser Versorgungsform, die es vom 15. November 2020 an geben soll, nehmen Ärzte auch weiterhin die Indikation und Verordnung eines Heilmittels vor. Die konkrete Auswahl der Leistung sowie die Behandlungsfrequenz und Behandlungsdauer erfolgen aber durch den Heilmittelerbringer, wie der Therapeut sehr zum Leidwesen vieler Verbandsmitglieder gemäß der gesundheitspolitischen Sprachregelung genannt wird. Mitbehandler würde man hier lieber hören. Die jährlich 37 Millionen Heilmittelverordnungen betreffen Krankengymnastik, Massagen, medizinische Fußpflege oder Sprachtherapie.
Als sich an diesem Montag im Hörsaal des Langenbeck-Virchow-Hauses in Berlin ein kleiner Hauch von Glückseligkeit über das bereits Erreichte in die Stimmung schleicht und Jens Spahn, der CDU-Bundesgesundheitsminister, andauernd mit Beifall gefeiert wird, kann Dea Heibel nicht länger an sich halten und fuchtelt so lange aus ihrer oberen Sitzreihe, bis man ihr das Mikrofon gibt. Ihr reicht nicht, was der Minister verspricht. Er stellt einen Zeitplan für eine Erneuerung der Berufsgesetze für die Branche in Aussicht, der mit den Eckpunkten für ein Gesetzgebungsverfahren noch in diesem Jahr beginnt. Eine Bundestagsdebatte würde dann frühestens 2020 folgen, in Kraft treten könne das Werk folglich nicht vor 2021. »Wir haben jetzt schon keinen Nachwuchs«, klagt die Logopädin. In den letzten Monaten hatten sie und ihre Mitarbeiter fast täglich verzweifelte Eltern am Telefon, die eine Sprach- oder Ergotherapie für ihre Vorschulkinder oder Erstklässler suchten. Die Wartezeiten betragen sechs bis acht Monate, und es sei sehr wichtig, die Therapie vor dem Abschluss der Hirnreifungsprozesse zu beginnen. Es herrsche Fachkräftemangel, und junge Menschen gingen eher zum Studium nach Holland, Schweden oder Australien, wo sie dann oftmals auch gleich noch einen Arbeitsplatz angeboten bekämen. Derzeit, beklagt Philipp Laube, der als Physiotherapeut eine private Schule betreibt, sei die Nachfrage nach Ausbildung eingebrochen, weil die jungen Menschen auf die Schulgeldfreiheit hoffen, die angekündigt sei. In einigen Bundesländern sei sie sogar bereits eingeführt. Laube sieht nun seine Existenz bedroht.
Dennoch wird die Akademisierung der therapeutischen Ausbildung vom größten Teil der im Spitzenverband der Heilmittelverbände (SHV) vertretenen Berufskolleginnen befürwortet. Ein Facharzt, erzählt Dea Heibel, erfahre in seiner Ausbildung nichts über die Sprachentwicklung des Kindes. Sie habe das aber im Studium gelernt. Heibel hat die Erfahrung gemacht, dass sie aufgrund ihrer gleichwertigen Ausbildung eine höhere Anerkennung bei den Ärzten genießt. Gesundheitsminister Spahn sieht die Sache etwas anders. Es mache einen Beruf doch auch attraktiv, wenn er Aufstiegsmöglichkeiten biete, gibt er zu bedenken. Und: Was nütze der Therapie-Bachelor, wenn der Student die ganze Zeit keinen Patienten zu sehen bekomme?
Akademisierung der Ausbildung, Vergütungserhöhungen, Direktzugang des Patienten zum Heilmittelerbringer – diese Themen werden die Therapeuten sicher noch einige Zeit beschäftigen. Auch wenn die Ärzteschaft den diplomatischen Vorstandskollegen Erik Bodendiek aus ihrem Kammervorstand zum SHVKongress schickte, der »Schritt für Schritt« vorgehen möchte und den Kollegen von der Therapiebank bescheinigte, dass jeder in seinem Bereich seine ganz speziellen Kenntnisse habe, darf wohl nicht vergessen werden, wie tief die Hierarchien im Medizinbetrieb verwurzelt sind.