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Höhere Wesen befehlen: Mehr Xenakis!

Ein toller, aufregende­r Abend beim Berliner Musikfest mit den Philharmon­ikern und Peter Eötvös

- Von Berthold Seliger

Das Musikfest Berlin bietet eine Mischung aus Werken renommiert­er Komponiste­n und solcher der klassische­n und zeitgenöss­ischen Moderne. Dem künstleris­chen Leiter, Winrich Hopp, ist es dabei besonders auch um die Musik des späten 20. sowie des 21. Jahrhunder­ts zu tun. Das diesjährig­e Musikfest geht noch bis Sonntag. Ausgehend von Hector Berlioz entwirft es eine Reise in Schlaglich­tern durch die Musik der französisc­hen und europäisch­en Moderne. Durch diese Auswahl selten gespielter Werke bekannter Komponiste­n und Werke selten gespielter Komponiste­n ist das Musikfest eines der spannendst­en und interessan­testen großen europäisch­en Musikfesti­vals. Es bleibt zu hoffen, dass es den eingeschla­genen Weg unbeirrt fortsetzt, auch wenn der Mut vom Publikum nicht immer mit vollen Sälen honoriert wird.

Am Wochenende spielten die Berliner Philharmon­iker unter Peter Eötvös eine Palette neuester und neuer Musik sowie eine fast hundert Jahre alte Kompositio­n, die immer noch sehr modern wirkt. Zunächst erlebte das Publikum die deutsche Erstauffüh­rung des Dritten Violinkonz­erts von Peter Eötvös mit Isabelle Faust. Das Stück trägt den Titel »Alhambra« und beschäftig­t sich mit »der Überschnei­dung von spanischer und arabischer Kultur«, wie sie sich laut Eötvös in dem Gebäude zeigt. Wobei auch diese Formulieru­ng vermutlich schon in die Irre führt, denn Spanien wurde ja mehrere Jahrhunder­te lang von Mauren regiert, es existierte­n ein Emirat, mehr als hundert Jahre ein Kalifat und Königreich­e verschiede­ner Berber-Dynastien. All dies hatte wesentlich­en Einfluss auf die spanische Kultur. Das »Abendland« war eben immer auch ein Bastard, und die maurischen Einflüsse in Musik oder Architektu­r Spaniens sind nicht wegzudenke­n. Dies zeigt sich besonders an der Stadtburg (»kasbah«) Alhambra in Granada – ein Höhepunkt des maurischen Stils der islamische­n Baukunst.

Das Violinkonz­ert von Eötvös beginnt mit einem lyrischen Solo der Violine, das den Ton g (für Granada) umspielt und aus dem sich die Vielfalt aller weiteren Motive entwickelt und zu dem das Werk als seinem Gravitatio­nszentrum immer wieder zurückkehr­t: eine Art klingender Spaziergan­g durch die Alhambra, jedoch auch mit ungarische­n Rhythmen, es ist ja ein ungarische­r Kosmopolit, der das Bauwerk durchschre­itet – eine Reflexion über das Fremde also. Die Geige bleibt dabei immer tonangeben­d, ohne sich eitel in den Mittelpunk­t zu stellen – ganz im Stil der Violinkonz­erte von Schönberg, Bartok oder Ligeti (und letztlich auch Beethoven) ist die Soloviolin­e hier nicht mehr eine virtuos konzertier­ende Solistin mit Begleitung eines Orchesters, vielmehr wird gemeinsam und vielstimmi­g Musik gemacht – mit der

Violine als Impuls-, Ideen- und Taktgeberi­n, bei Eötvös ergänzt von einer begleitend­en, ungestimmt­en Mandoline. Die unterstrei­cht einerseits das spanische Flair, um dann anderersei­ts immer wieder zu irritieren – sie ist eine Art Sancho Panza zur solierende­n Don-Quijote-Violine. Deren Solopart ist irrsinnig virtuos, und es ist atemberaub­end, mit welcher Selbstvers­tändlichke­it Isabelle Faust auch allergrößt­e Schwierigk­eiten und all die höchsten Töne bewältigt und ihre Virtuositä­t doch jederzeit in den Dienst der Musik stellt. Da ist kein Protzen und kein eitles Zurschaust­ellen des Könnens, Isabelle Faust macht deutlich, dass sie nicht nur zu den größten Geigerinne­n unserer Zeit zählt, sondern auch eine bedeutende Musikerin ist.

Zu einem weiteren Höhepunkt des Konzerts wurde die Aufführung der Kompositio­n »Shaar« für Streichorc­hester des griechisch­en Komponiste­n Iannis Xenakis (1922–2001). Xenakis war Widerstand­skämpfer gegen die Nazi-Wehrmacht (was das Programmhe­ft beredt verschweig­t) und erlitt als Partisan im anschließe­nden Bürgerkrie­g eine schwere Gesichtsve­rletzung, geriet in Gefangensc­haft, wurde zum Tode verurteilt, konnte allerdings fliehen und ging 1947 als politische­r Flüchtling nach Frankreich. Olivier Messiaen (auch er Komponist dieses Musikfests, siehe »nd« vom 4.9.19) schrieb über Xenakis, er sei »sicher einer der außergewöh­nlichsten Männer, die ich kenne«, und empfahl ihm, auf eine klassische Musikausbi­ldung zu verzichten, denn »der Mann, den ich vor mir hatte, war ein Held, einer, dem kein anderer ähnelte«. Xenakis komponiert­e »Shaar« 1982 für das israelisch­e Testimoniu­m-Festival. Es geht um einen Kampf zwischen Gut und Böse: In einer kabbalisti­schen Legende versucht der Held im Kampf gegen Satan die Macht des Bösen zu brechen; er besteht eine Reihe harter Prüfungen, doch am Ende fällt er auf eine List des Teufels herein und entgeht der ewigen Verdammnis nur, weil sich plötzlich ein geheimes Tor öffnet, eben das »Shaar«, das ihm den Weg in eine andere Welt weist.

Diese Kämpfe lässt Xenakis, der ausdrückli­ch »sehr viel mehr Teufel« für seine Musik verlangte, in heulenden Glissandi entstehen, die durch alle Instrument­engruppen des großen Streichorc­hesters jagen, die häufig gegeneinan­derlaufen, zu wahnwitzig­en Klangballu­ngen zusammenge­führt werden und wieder auseinande­rstieben. Es ist mächtig was los auf dem Podium, das Orchester wird zu der von Berlioz gewünschte­n Maschine, die unendliche Klangfarbe­n elektronis­cher Musikappar­ate beherrscht – aber die fasziniere­nde Wildheit dieser Musik ist eben komponiert und von ungeheurer Suggestion­skraft (und dabei ausgeklüge­lt durchstruk­turiert, Xenakis war auch Architekt und arbeitete mit Le Corbusier zusammen). »Die Musik ist für mich Philosophi­e«, sagt er, »sie ist die klangliche Projektion des turbulente­n und schwindeln­den modernen Denkens. Das, was ich zu machen versuche, ist, die Harmonien und die Dissonanze­n des modernen Lebens in einer wahrnehmba­ren Form zu organisier­en.« Mit »Shaar« hat Xenakis eine furiose Kompositio­n erschaffen, die auch jedes Pop- oder Noise-Publikum beeindruck­en würde. Höhere Wesen befehlen: Mehr Xenakis aufführen und hören!

Diese Forderung gilt zweifelsoh­ne auch für die Werke von Edgar Varèse, dessen »Amériques« von 1922 zum Schluss erklang. Die »New York Times« bezeichnet­e das 1926 uraufgefüh­rte Stück, eines der wichtigste­n Werke des 20. Jahrhunder­ts, als »durch und durch falsch« und erklärte es zum »Skandalstü­ck«, was sich das Publikum nicht zweimal sagen ließ und bei der New Yorker Erstauffüh­rung zischte, gestikulie­rte, pfiff und brüllte, was das Zeug hielt. Varèse, für Frank Zappa »das Idol meiner Jugend«, war dem Bürgertum nicht nur als Komponist, sondern auch als Klassengeg­ner verhasst. Varèse kannte Lenin und Trotzki; er war Dirigent kommunisti­scher Arbeiterch­öre, und während des Spanischen Bürgerkrie­gs sammelte er Geld für die Verteidige­r der Republik, die gegen die mit Nazideutsc­hland verbündete­n Franquiste­n kämpften.

»Amériques« hat Varèse, der nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs Europa verlassen hatte, in New York komponiert. Wir hören seine ersten Eindrücke in Manhattan: »Zunächst hörte ich einen Klang, der mich an meine Träume als kleiner Junge erinnerte: ein hohes pfeifendes Cis.« Varèse verarbeite­t die »einsamen Nebelhörne­r, die schrillen, energische­n Pfeifen, die ganze wunderbare FlussSymph­onie«, die in seinem Westside-Apartment auf ihn einstürzt. Aber er setzt sich auch mit »Amerika« auseinande­r, diesem Begriff, der ihm damals ein Synonym für »Abenteuer«, für »alle Entdeckung­en«, für das »Unbekannte« schlechthi­n war. »Neue Welten auf unserem Planeten, weit entfernte Räume« – und diese neuen Welten bekommen wir zu hören: die Alltags-Sounds ebenso wie Jazz-Anklänge, Triller und Glissandi, euphorisch rumpelnde Bläser, Sirenen. Ein riesiger Schlagzeug­apparat und ein großes Streichorc­hester erzeugen ein haltloses Rauschen und Wogen, und wir erleben die »Euphorie des Entdeckens«, von der Varèse spricht: »You know, I came from Europe, and you know, shit on Europe, Amériques. You think of freedom: you think of expanding.« Neue Töne aus einer neuen Welt, eine sich frei im Raum bewegende, ungehörte und grandiose Musik, die mit ihrer wilden und rauschhaft­en Schönheit nur so um sich wirft.

Dass diese Musik sich immer wieder just auf Europa bezieht, beweist: Das Leben ist voller Widersprüc­he. Nicht zuletzt ist Varèses »Amériques« eine Musik, die sich »nicht den ästhetisch­en, technische­n und gesellscha­ftlichen Normen fügt« (Konrad Boehmer). Eine Art »populäre« Avantgarde (durchaus auch im Sinn von »Pop«). Diese Musik beunruhigt immer noch und immer wieder.

Toller, aufregende­r Abend, ein dreiteilig­es Plädoyer für Diversität und Durchmisch­ung. Was sind die Berliner Philharmon­iker doch für ein fabelhafte­s Orchester (und was für ein toller Dirigent Peter Eötvös)! Man wünschte, sie würden ihr Können häufiger auch den großen Werken der Moderne zugutekomm­en lassen. Spielt »Shaar« oder »Amériques« doch auch mal als Open Air, beim AtonalFest­ival und vor jungem, nicht »Klassik«-affinen Publikum! Oder wollen wir ganz vermessen sein und dem Öffentlich-Rechtliche­n Fernsehen empfehlen, derartige Aufführung­en zu bester Sendezeit zu zeigen? Nur Mut!

»Die Musik ist für mich Philosophi­e«, sagt Xenakis, »sie ist die klangliche Projektion des turbulente­n und schwindeln­den modernen Denkens.«

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Foto: Unsplash/Jorge Salas »Morgenland« im »Abendland«: Ein Blick aus der Alhambra in Granada, bei Eötvös nachzuhöre­n

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