Abstoßend und anziehend zugleich
Von der Religion zum Anarchismus oder zur Polizei: Paolo Giordanos realistischer Roman »Den Himmel stürmen«
Teresa verbringt die Sommerferien immer im Süden bei ihrer Oma in Apulien. Eines Nachts dringen drei Jungen in den Garten der Villa ein und baden im Swimmingpool. Der Hausmeister, vom Lärm geweckt, verjagt sie. Als sich Nicola, Tommaso und Bernardo, genannt Bern, ein paar Tage später bei der Großmutter entschuldigen, weiß Teresa noch nicht, wie wichtig die Jungen für ihr Leben werden sollen.
Aber sie beginnt sich für die drei zu interessieren. Sie folgt ihnen auf ihren Hof, der von Nicolas Eltern, Cesare und Floriana, geführt wird. Beide sind fromme Christen, die gleichzeitig an die Wiedergeburt glauben.
Sie hatten Bern und Tommaso als Pflegekinder aufgenommen und unterrichten sie zu Hause. Teresa ist zunächst von der Religiosität der Familie irritiert, doch dann verbringt sie jeden Sommer viel Zeit auf dem Hof.
Es ist die 30-jährige Teresa, die in Paolo Giordanos Roman »Den Himmel stürmen« im Rückblick erzählt und die Ereignisse zu erklären versucht. Nachdem sie Tommaso wiedergefunden hat, erfährt sie auch das, was passiert ist, während sie in Turin bei ihrer Mutter war. Nach und nach entsteht so die Geschichte einer sich radikalisierenden Jugend.
Besonders Bern folgt dem charismatischen Cesare zunächst in dessen Glauben. Aber dann ist er es, der als Erster aufbegehrt, der dem religiösen Eifer seines Pflegevaters die Radikalität des Anarchismus Max Stirners entgegensetzt. Sein bedingungsloser Glaube an die neue Überzeugung zieht auch Teresa und die beiden anderen Jungen an.
Doch als Teresa sich in Bern verliebt, hält er sie auf Distanz. Stattdessen macht sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Nicola. Gleichzeitig haben die drei Jungen, wie Teresa später von Tommaso erfährt, während ihrer Abwesenheit eine sexuelle Beziehung mit einem Mädchen aus Albanien.
Am Anfang weiß man als Leser von Paolo Giordanos Roman nicht, wohin die Geschichte führt. Obwohl man ahnt, dass alles nicht gut ausgehen wird. Berns religiöser Streik gegen Cesare, seine Radikalität erscheinen zunächst noch pubertär und harmlos. Doch vom Anarchismus inspiriert gelangen Bern und Tommaso in die militante Ökoszene, die versucht, die traditionelle Olivenbewirtschaftung gegen die Agrarindustrie zu verteidigen. Und Nicola, der einzige leibliche Sohn von Cesare und Floriana, wird Polizist.
Sexualität steht in der Erzählung nicht im Vordergrund, aber Giordanos Figuren werden ohne Zweifel davon geprägt. Gleichzeitig gehört zum Realismus des italienischen Autors, dass er keine einfache Antwort auf die Frage gibt, wie es zur Katastrophe kommen konnte.
So bleiben beispielsweise sowohl Cesare als auch Bern, die beiden radikalsten Figuren des Buches, widersprüchlich. Trotz seiner religiösen Strenge kann Cesare noch den größten Verrat verzeihen, und Berns rücksichtsloser und abstoßender Radikalität steht seine unwiderstehliche Anziehungskraft gegenüber, seine Fähigkeit, für eine bessere Welt zu begeistern.
Zu Paolo Giordanos realistischer Schreibweise gehört außerdem, dass er nicht von wieder erkennbaren »Typen« erzählt. Seine Figuren sind unverwechselbar individuell. Es dauert eine Weile, bis man ihre Bedeutung in der Geschichte versteht. Aber gerade durch dieses langsame erzählerische Herantasten geht dem Leser der Roman lange nicht mehr aus dem Kopf.
Paolo Giordano: Den Himmel stürmen. A. d. Ital. v. Barbara Kleiner, Rowohlt, 528 S., br, 12 €