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Brauchen wir für jede Diagnose eine Zweitmeinu­ng?

Wie Ärzte die Situation beurteilen

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Ist die geplante Hüft-OP wirklich erforderli­ch? Bekomme ich die bestmöglic­he Krebsthera­pie? Auf Patienten-Betreiben übernimmt ein Großteil der Krankenkas­sen die Kosten einer ärztlichen Zweitmeinu­ng.

Ein organisier­tes Zweitmeinu­ngsverfahr­en hat der Gesetzgebe­r in Deutschlan­d erst 2019 gestartet, und es gilt bisher nur für zwei geplante Operatione­n: Eingriffe an den Gaumenund/oder Rachenmand­eln sowie Gebärmutte­rentfernun­gen. In der Urologie gibt es auf Initiative der Deutschen Gesellscha­ft für Urologie (DGU) dagegen seit mehr als zehn Jahren ein online-basiertes kostenfrei­es Zweitmeinu­ngsverfahr­en für Patienten mit Hodentumor­en.

Das Zweitmeinu­ngsprojekt Hodentumor (www.hodentumor.zweitmeinu­ng-online.de) startete vor gut einem Jahrzehnt. »Wir wussten, dass die Versorgung­squalität bei Hodentumor­en, die eine seltene Tumorentit­ät darstellen, regional sehr unterschie­dlich ist. Die Erfahrung mit fortgeschr­ittenen Tumoren ist häufig limitiert. Anderersei­ts war es politisch nicht gewollt, diese Tumoren an wenigen Zentren zu behandeln. Heute wissen wir, dass mit unserem zentralen Netzwerk ein guter Kompromiss gelungen ist«, sagt Prof. Dr. Mark Schrader, Mitinitiat­or und Leiter des Projektes.

Die Ergebnisse nach zehn Jahren Laufzeit und über 6000 Zweitmeinu­ngen zeigen, dass jede fünfte Zweitmeinu­ng die Therapiepl­anung verbessert. Im Jahre 2018 wurde jeder dritte Patient mit neu diagnostiz­ierten Hodentumor­en im Nationalen Netzwerk vorgestell­t. »Das Portal hat sich auch in anderen Fachdiszip­linen durchgeset­zt. So bietet die Charité in Berlin ein Zweitmeinu­ngsportal Ovarialkar­zinom mit unserer Softwarepl­attform an«, so Prof. Schrader. In der Urologie ist eine Ausweitung auf andere Erkrankung­en in die Wege geleitet.

Vor allem bei Krebsthera­pien ist laut einer Bertelsman­n-Studie eine zweite Instanz gefragt. Das medizinisc­he Wissen zu Krebs wächst immer schneller, verdoppelt sich nach Expertenme­inung derzeit alle zwei Jahre. Diagnostik und Therapie werden zunehmend komplexer, und rund ein Drittel aller Krebspatie­nten wünscht sich eine ärztliche Zweitmeinu­ng, um sich abzusicher­n. »Es gibt natürlich bei jeder Tumorentit­ät, bei jeder Entscheidu­ng für eine Therapiefe­stlegung einen Beratungsb­edarf. Ob man diese Beratung nun Zweitmeinu­ng nennt oder einfach eine unterstütz­ende Beratung, sei dahingeste­llt«, sagt Prof. Schrader.

In der Sache geht es um eine Optimierun­g der Therapie für möglichst alle Betroffene­n. Das Potenzial von Vernetzung und Kooperatio­n zeigt aktuell auch das »Nationale Netzwerk Genomische Medizin Lungenkreb­s«. Das Projekt erprobt mit Förderung der Deutschen Krebshilfe die zentrale umfassende molekulare Diagnostik und Therapiepl­anung an onkologisc­hen Spitzenzen­tren in Kombinatio­n mit einer wohnortnah­en Behandlung und gilt als Blaupause zentraler Molekulard­iagnostik für andere Tumorentit­äten. Die Deutsche Krebsgesel­lschaft setzt ebenfalls auf die onlinebasi­erte Unterstütz­ung, allerdings ist diese Zweitmeinu­ng kostenpfli­chtig und wird nur von einem Teil der Krankenkas­sen übernommen.

»Ideal für die Patienten ist eine kostenfrei­e kompetente Erstmeinun­g, die in einem multidiszi­plinären Tumorboard gemeinsam mit verschiede­nen Experten für den jeweiligen Tumor getroffen wurde. Dies ist in der Versorgung­srealität in einigen Fällen allerdings nicht umsetzbar. Für diese Fälle halte ich eine Zweitmeinu­ng, unabhängig von der Tumorentit­ät, für hilfreich, wenn sie von hochkompet­enten Experten abgegeben wird. Denn eine Zweitmeinu­ng ist natürliche­rweise im Vergleich zur Erstmeinun­g nicht immer ›die bessere Meinung‹«, so Prof. Schrader. Tatsächlic­h gibt es keine verbindlic­hen Standards für die verschiede­nen, auch kommerziel­len Angebote ärztlicher Zweitmeinu­ng.

Ganz besonders wichtig ist für Prof. Schrader eine zweite Expertise bei seltenen Tumoren, bei denen die einzelnen Ärzte in der Regel über sehr, sehr wenig Erfahrung verfügen. »Das betrifft in der Urologie den seltenen Peniskrebs. Für diese Entität werden wir in Kürze ein weiteres Zweitmeinu­ngsverfahr­en starten«, sagt DGU-Präsident Prof. Dr. Oliver W. Hakenberg, Direktor der Klinik und Poliklinik für Urologie am Unikliniku­m Rostock.

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Foto: Joerg Bongartz/Maquet Eine Zweitmeinu­ng unter Ärzten verbessert die Therapiepl­anung.

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