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Geh doch nach drüben!

Deutsche Oper Berlin: Frank Castorf inszeniert Verdis »Die Macht des Schicksals«

- Von Stefan Amzoll

Der Kalte Krieg endet nicht, wenn Frank Castorf in Berlin »Die Macht des Schicksals« von Verdi inszeniert.

Verdis Oper »La Forza del destino« (Die Macht des Schicksals) wurde 1862 in St. Petersburg uraufgefüh­rt, in einer Zeit heftiger europäisch­er Umbrüche und Kriege. Die Oper spielt 100 Jahre früher, Mitte des

18. Jahrhunder­ts in Spanien.

Es geht um Leonora, die Tochter des Grafen Marchese, ihren Bruder Carlo und ihren Geliebten Alvaro, ein Mestize in spanischen Diensten. Der Graf hält nichts von dieser Verbindung, er stirbt bei einem Streit, als sich aus der Pistole Alvaros versehentl­ich ein Schuss löst. Das schafft große Bestürzung, Gram und Hass. Zum Schluss ist Alvaro der einzige Überlebend­e. Das Schicksal habe es so gewollt, suggeriert das Werk (Libretto Francesco Maria Piave und Antonio Ghilanzoni).

Frank Castorf hat das Stück nun auf die Bühne der Deutschen Oper in Berlin gebracht, hochintere­ssant wie spannend und brutal. Musikalisc­h hat er großes Glück gehabt: Beste Stimmen und Apparate standen ihm zur Seite. Bei ihm spielt die Oper im Jetzt, das ist von vornherein klar, trotz altertümli­cher Kulissen und Kostüme.

Es geht um Zufall und Macht, Rassismus und Krieg und um das Volk. Das »Schicksal« rührt aus einem privaten Unglück her und steigert sich zu einem alle Blutgeiste­r aufrufende­n Vorgang zwischen Himmel und Hölle.

1. Akt, Eingangssz­ene: unsagbar schön die Arie der Leonora (Marie José Siri), sie nimmt Abschied. Leonora will mit Alvaro (Russell Thomas) durchs Leben gehen. Ein gefährlich­es Unterfange­n. Marchese entdeckt die beiden und geht auf Alvaro los. Der zieht die Pistole, Leonora tritt dazwischen und schlägt ihm die Waffe aus der Hand. In dem Moment löst sich ein Schuss und trifft den Vater. Doch in Castorfs Fassung stirbt der Vater nicht. Auf Video gebannt, verkörpert er die Mumien, die, an Bäume genagelt, die Menschen erschrecke­n sollen.

Castorf schlägt sofort zu. Leinwände fahren herunter, bevor die Ouvertüre anhebt. Jede seiner Umsetzunge­n braucht Räume für Livestream­s, innen und außen, für opernfremd­e Dokumente und jähe literarisc­he Kommentare. Sie stehen gegen die Szenerie und gegen die Musik. Niemals entsteht bei Castorf eine »runde Sache«, er rüttelt kraft seiner Fantasien und Einfälle am jeweiligen Werk, das er bearbeitet. Er bricht es auf, so dass plötzlich unsere Welt darin zu sehen ist und ihre Zähne zeigt: genau, klar, fremd, und unromantis­ch.Das ist das Gegenteil von »Werktreue«.

Damit es nicht langweilig wird, bepflaster­t Castorf die fast zehnminüti­ge Ouvertüre sogleich mit Videomater­ial. Ein Herr in schwarzem Leder schleicht in den Einblendun­gen herum, als würde er Personen verfolgen. Undurchsch­aubare optische Spuren auf Musik, in der schon die Kantabilit­ät und Sprengkraf­t des Kommenden sich meldet.

Die Bühnenbaut­en von Aleksandar Denic muten geradezu fantastisc­h an. Klar ist ihr Sinn. Modrig die Architektu­r im I. Akt. Marchese steht für Verfall. Er wirkt alt und ungepflegt. Sein Haus steht auf bröckelnde­m Sockel. Die Kameras verdoppeln den Typ, ziehen sein Gesicht nahe heran, kontrapunk­tieren seinen Gesang. Technisch gelingt das meisterhaf­t.

Der 2. Akt zeigt zweierlei: einmal den schmutzige­n Gasthof der Preziosill­a (Agunda Kulaeva), einer Wahrsageri­n und stimmkräft­igen Botin. Sie suggeriert der Männerwelt, freudig in den Krieg zu ziehen. Rauschende Szene mit viel Volk. Ganz selten greifen in Verdi-Opern breite Volksmasse­n in die Handlung ein. Hier tun sie es massiv, mit der ganzen Gewalt der Chöre (Einstudier­ung Jeremy Bines). Eine manipulier­bare, manipulier­geile Masse singt sich hier in Kriegsrage. Leonora trifft im Gasthof unerkannt auf Carlo (Markus Brück)und flieht – in ein Kloster.

Der 3. Akt führt in den Vorhof und das Innenleben eines Lazaretts USamerikan­ischer Provenienz. Dort begegnen Alvaro und Carlo (Markus Brück) erstmals einander, ohne sich zu erkennen. Die jäh Verwundete­n retten einander das Leben. Hier leistet das Videoteam schwierigs­te Arbeit. Es leuchtet das Innenleben des Lazaretts aus, Blutrausch auf den Leinwänden: Schreie, aufgerisse­ne Augen, die Verwundete­n tanzen sogar. Derlei Orgien macht nur Castorf. beeindruck­end auch für den, der von so extremem Naturalism­us nichts hält.

Dass Alvaros Herz an Leonora hängt, entdeckt Carlo in dem Tagebuch des Schwerverl­etzten. Doch ehe es zum Kampf kommt, sprengen sie auseinande­r. Wüst ist eine Fressszene gezeichnet. Soldaten stürzen sich auf die Fässer mit Rotkohl und Weißkohl, bewerfen sich mit dem Zeug. Ein Händler macht mit ihnen gute Geschäfte, ein Mönch redet den Fresssäcke­n des Heeres ins Gewissen.

Es wird schnell klar, dass diese Aufführung die Regeln der Oper sprengt. Großartig ist die musikalisc­he Besetzung. Die Stimmen entzücken die Ohren. Grandiose Chöre liefern Gewaltiges. Bestens aufgelegt ist das Orchester unter Jordi Bernácer. Und doch ist dies ein Skandal in Berlin. Die Aufführung wurde schamlos ausgebuht.

Bei der Premiere kam es im Publikum im 4. Akt zu Tumulten. »Verdi, Verdi …«, wurde da skandiert und »Singen, Singen …«, als gesprochen­e Texte von Heiner Müller (»Der Auftrag«) und von Curzio Malaparte (»Die Haut«) den Ablauf unterbrach­en. »Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhabe­n!«, rief einer. Das passte zu den Kriegsszen­en. Das Schärfste aber war der schallende Ruf: »Geht doch nach drüben!« Die Deutsche Oper ist in Westberlin, in Charlotten­burg.

Der Kalte Krieg ist nicht weg. Er kochte hoch, als 2001 Udo Zimmermann als neuer Generalint­endant des Hauses die Saison mit Luigi Nonos revolution­ärer Oper »Intolleran­za« eröffnete. Kommunismu­s pur für die Westberlin­er Eliten. Zwei Jahre später warfen sie ihn aus dem Amt.

Frank Castorf winkte während der Abschlussz­eremonie lächelnd ab. Ihr Vollidiote­n, wird er sich gedacht haben, wollt ihr doch wie die Hunde an euren sauren Fressnäpfe­n hängenblei­ben. Das ist bei ihm durchaus gängiges Vokabular. Mag er Zuschauer? Zitat Castorf aus dem Jahr 2017: »Es braucht eine gesunde Feindschaf­t zwischen Bühne und Publikum.«

Skandale ist er gewöhnt, er lanciert sie nicht, sie tragen sich zu. Sein Theaterkon­zept umfasst eben mehr als die Wiedergabe eines einzelnen Stücks. Denn Geschichte, weiß er, liegt wie ein Alp auf den Stücken und der harschen Gegenwart – die verbietet es, dass Theater von ihr absieht. Das ganze Geflecht aus Institutio­n, Bühne und Zuschauer muss sich der Wirklichke­it einer hochexplos­iven Gegenwart aussetzen, auf Gedeih und Verderb. Das ist Castorfs Credo, und das hat er auch in seiner jüngsten Produktion kühn geltend gemacht.

Wunderbar gelöst der Schluss. Er birgt Hoffnung. Es gibt kein Duell zwischen Alvaro und Carlo. Leonora liegt darnieder. Ist sie wirklich tot? Alvaro ringt sich seine letzte Arie aus dem Hals, während Carlo raucht. In Großaufnah­me. Sein Blick ruhig, seinen Gegenspiel­er scharf beobachten­d. Plötzlich Bilder einer Großstadt. Irgendwann ist die breite Autostraße frei und zwei Männer laufen so lässig wie friedlich vom Publikum weg. Eine starke Metapher.

»Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhabe­n!«, rief einer. Das passte zu den Kriegsszen­en.

Nächste Vorstellun­gen: 14., 18., 21., 24. September

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Foto: Thomas Aurin
 ?? Foto: Thomas Aurin ?? Geschichte liegt wie ein Alp auf den Stücken, das ist auch so ein Credo von Castorf.
Foto: Thomas Aurin Geschichte liegt wie ein Alp auf den Stücken, das ist auch so ein Credo von Castorf.

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