Geh doch nach drüben!
Deutsche Oper Berlin: Frank Castorf inszeniert Verdis »Die Macht des Schicksals«
Der Kalte Krieg endet nicht, wenn Frank Castorf in Berlin »Die Macht des Schicksals« von Verdi inszeniert.
Verdis Oper »La Forza del destino« (Die Macht des Schicksals) wurde 1862 in St. Petersburg uraufgeführt, in einer Zeit heftiger europäischer Umbrüche und Kriege. Die Oper spielt 100 Jahre früher, Mitte des
18. Jahrhunderts in Spanien.
Es geht um Leonora, die Tochter des Grafen Marchese, ihren Bruder Carlo und ihren Geliebten Alvaro, ein Mestize in spanischen Diensten. Der Graf hält nichts von dieser Verbindung, er stirbt bei einem Streit, als sich aus der Pistole Alvaros versehentlich ein Schuss löst. Das schafft große Bestürzung, Gram und Hass. Zum Schluss ist Alvaro der einzige Überlebende. Das Schicksal habe es so gewollt, suggeriert das Werk (Libretto Francesco Maria Piave und Antonio Ghilanzoni).
Frank Castorf hat das Stück nun auf die Bühne der Deutschen Oper in Berlin gebracht, hochinteressant wie spannend und brutal. Musikalisch hat er großes Glück gehabt: Beste Stimmen und Apparate standen ihm zur Seite. Bei ihm spielt die Oper im Jetzt, das ist von vornherein klar, trotz altertümlicher Kulissen und Kostüme.
Es geht um Zufall und Macht, Rassismus und Krieg und um das Volk. Das »Schicksal« rührt aus einem privaten Unglück her und steigert sich zu einem alle Blutgeister aufrufenden Vorgang zwischen Himmel und Hölle.
1. Akt, Eingangsszene: unsagbar schön die Arie der Leonora (Marie José Siri), sie nimmt Abschied. Leonora will mit Alvaro (Russell Thomas) durchs Leben gehen. Ein gefährliches Unterfangen. Marchese entdeckt die beiden und geht auf Alvaro los. Der zieht die Pistole, Leonora tritt dazwischen und schlägt ihm die Waffe aus der Hand. In dem Moment löst sich ein Schuss und trifft den Vater. Doch in Castorfs Fassung stirbt der Vater nicht. Auf Video gebannt, verkörpert er die Mumien, die, an Bäume genagelt, die Menschen erschrecken sollen.
Castorf schlägt sofort zu. Leinwände fahren herunter, bevor die Ouvertüre anhebt. Jede seiner Umsetzungen braucht Räume für Livestreams, innen und außen, für opernfremde Dokumente und jähe literarische Kommentare. Sie stehen gegen die Szenerie und gegen die Musik. Niemals entsteht bei Castorf eine »runde Sache«, er rüttelt kraft seiner Fantasien und Einfälle am jeweiligen Werk, das er bearbeitet. Er bricht es auf, so dass plötzlich unsere Welt darin zu sehen ist und ihre Zähne zeigt: genau, klar, fremd, und unromantisch.Das ist das Gegenteil von »Werktreue«.
Damit es nicht langweilig wird, bepflastert Castorf die fast zehnminütige Ouvertüre sogleich mit Videomaterial. Ein Herr in schwarzem Leder schleicht in den Einblendungen herum, als würde er Personen verfolgen. Undurchschaubare optische Spuren auf Musik, in der schon die Kantabilität und Sprengkraft des Kommenden sich meldet.
Die Bühnenbauten von Aleksandar Denic muten geradezu fantastisch an. Klar ist ihr Sinn. Modrig die Architektur im I. Akt. Marchese steht für Verfall. Er wirkt alt und ungepflegt. Sein Haus steht auf bröckelndem Sockel. Die Kameras verdoppeln den Typ, ziehen sein Gesicht nahe heran, kontrapunktieren seinen Gesang. Technisch gelingt das meisterhaft.
Der 2. Akt zeigt zweierlei: einmal den schmutzigen Gasthof der Preziosilla (Agunda Kulaeva), einer Wahrsagerin und stimmkräftigen Botin. Sie suggeriert der Männerwelt, freudig in den Krieg zu ziehen. Rauschende Szene mit viel Volk. Ganz selten greifen in Verdi-Opern breite Volksmassen in die Handlung ein. Hier tun sie es massiv, mit der ganzen Gewalt der Chöre (Einstudierung Jeremy Bines). Eine manipulierbare, manipuliergeile Masse singt sich hier in Kriegsrage. Leonora trifft im Gasthof unerkannt auf Carlo (Markus Brück)und flieht – in ein Kloster.
Der 3. Akt führt in den Vorhof und das Innenleben eines Lazaretts USamerikanischer Provenienz. Dort begegnen Alvaro und Carlo (Markus Brück) erstmals einander, ohne sich zu erkennen. Die jäh Verwundeten retten einander das Leben. Hier leistet das Videoteam schwierigste Arbeit. Es leuchtet das Innenleben des Lazaretts aus, Blutrausch auf den Leinwänden: Schreie, aufgerissene Augen, die Verwundeten tanzen sogar. Derlei Orgien macht nur Castorf. beeindruckend auch für den, der von so extremem Naturalismus nichts hält.
Dass Alvaros Herz an Leonora hängt, entdeckt Carlo in dem Tagebuch des Schwerverletzten. Doch ehe es zum Kampf kommt, sprengen sie auseinander. Wüst ist eine Fressszene gezeichnet. Soldaten stürzen sich auf die Fässer mit Rotkohl und Weißkohl, bewerfen sich mit dem Zeug. Ein Händler macht mit ihnen gute Geschäfte, ein Mönch redet den Fresssäcken des Heeres ins Gewissen.
Es wird schnell klar, dass diese Aufführung die Regeln der Oper sprengt. Großartig ist die musikalische Besetzung. Die Stimmen entzücken die Ohren. Grandiose Chöre liefern Gewaltiges. Bestens aufgelegt ist das Orchester unter Jordi Bernácer. Und doch ist dies ein Skandal in Berlin. Die Aufführung wurde schamlos ausgebuht.
Bei der Premiere kam es im Publikum im 4. Akt zu Tumulten. »Verdi, Verdi …«, wurde da skandiert und »Singen, Singen …«, als gesprochene Texte von Heiner Müller (»Der Auftrag«) und von Curzio Malaparte (»Die Haut«) den Ablauf unterbrachen. »Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben!«, rief einer. Das passte zu den Kriegsszenen. Das Schärfste aber war der schallende Ruf: »Geht doch nach drüben!« Die Deutsche Oper ist in Westberlin, in Charlottenburg.
Der Kalte Krieg ist nicht weg. Er kochte hoch, als 2001 Udo Zimmermann als neuer Generalintendant des Hauses die Saison mit Luigi Nonos revolutionärer Oper »Intolleranza« eröffnete. Kommunismus pur für die Westberliner Eliten. Zwei Jahre später warfen sie ihn aus dem Amt.
Frank Castorf winkte während der Abschlusszeremonie lächelnd ab. Ihr Vollidioten, wird er sich gedacht haben, wollt ihr doch wie die Hunde an euren sauren Fressnäpfen hängenbleiben. Das ist bei ihm durchaus gängiges Vokabular. Mag er Zuschauer? Zitat Castorf aus dem Jahr 2017: »Es braucht eine gesunde Feindschaft zwischen Bühne und Publikum.«
Skandale ist er gewöhnt, er lanciert sie nicht, sie tragen sich zu. Sein Theaterkonzept umfasst eben mehr als die Wiedergabe eines einzelnen Stücks. Denn Geschichte, weiß er, liegt wie ein Alp auf den Stücken und der harschen Gegenwart – die verbietet es, dass Theater von ihr absieht. Das ganze Geflecht aus Institution, Bühne und Zuschauer muss sich der Wirklichkeit einer hochexplosiven Gegenwart aussetzen, auf Gedeih und Verderb. Das ist Castorfs Credo, und das hat er auch in seiner jüngsten Produktion kühn geltend gemacht.
Wunderbar gelöst der Schluss. Er birgt Hoffnung. Es gibt kein Duell zwischen Alvaro und Carlo. Leonora liegt darnieder. Ist sie wirklich tot? Alvaro ringt sich seine letzte Arie aus dem Hals, während Carlo raucht. In Großaufnahme. Sein Blick ruhig, seinen Gegenspieler scharf beobachtend. Plötzlich Bilder einer Großstadt. Irgendwann ist die breite Autostraße frei und zwei Männer laufen so lässig wie friedlich vom Publikum weg. Eine starke Metapher.
»Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben!«, rief einer. Das passte zu den Kriegsszenen.
Nächste Vorstellungen: 14., 18., 21., 24. September